Wussten Sie, dass die meisten Anwälte bei avocado rechtsanwälte leidenschaftliche Radfahrer sind? Nicht zuletzt deshalb finden wir die aktuelle Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) vom 16.02.2023, Az. C-472/21 mit dem Namen „Sattelunterseite“ so spannend, dass wir sie hier vorstellen wollen. Sie hat aber auch für das Designrecht grundsätzliche Bedeutung.
Der Fall
Die Klägerin hatte zunächst beim Deutschen Patent- und Markenamt (DPMA) einen Antrag auf Nichtigkeitserklärung eines Designs betreffend die Unterseite eines Fahrradsattels gestellt. Das Design war mit einer einzigen Abbildung eingetragen, die die Unterseite eines Fahrradsattels zeigte. Bei der Frage, ob dieses Design zu löschen ist, war maßgeblich streitrelevant, ob die besonders gestaltete Fahrradunterseite bei „bestimmungsgemäßer Verwendung“ des Fahrrads sichtbar ist. Hierauf kommt es nämlich bei einem Bauelement, was in einem komplexen Erzeugnis verwendet wird, für die Beurteilung der Neuheit und Eigenart des beanspruchten Designs nach dem Gesetz (§§ 1 Nr. 4, 4 DesignG) entscheidend an. Abzugrenzen von der „bestimmungsgemäßen Verwendung“ sind nach dem Gesetz (§ 1 Nr. 4 DesignG) „Maßnahmen der Instandhaltung, Wartung oder Reparatur“. Diese Einschränkung rührt daher, dass man nicht über das Designrecht bspw. Teile eines Autos schützen können soll, die nur bei der Wartung sichtbar sind (dafür gibt es ggf. den Patent- oder Gebrauchsmusterschutz).
Das DPMA hat den Nichtigkeitsantrag abgelehnt. Zur Begründung führte das DPMA aus, dass es zum bestimmungsgemäßen Gebrauch eines Fahrrads bspw. gehöre, das Fahrrad hochzuheben und auf einen Fahrradträger am Auto zu setzen oder den Sattel abzumontieren, wobei die charakteristische Unterseite sichtbar sei.
Das Bundespatentgericht (BPatG) war anderer Auffassung: Das Design sei nichtig, weil der bestimmungsgemäße Gebrauch eines Fahrrads das Auf- und Absteigen sowie das Fahren sei. Bei diesen Benutzungshandlungen sei aber die Unterseite des Sattels nicht sichtbar, weshalb eine Beurteilung der Neuheit und Eigenart aus Sicht des informierten Benutzers nicht möglich sei.
Im Rechtsbeschwerdeverfahren hat der Bundesgerichtshof (BGH) die Sache dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt.
Die Entscheidung
Der EuGH hat zunächst festgestellt, dass die Formulierung des deutschen Gesetzes von der zugrundeliegenden Richtlinie (98/71/EG) abweicht. Dort ist in Art. 3 Abs. 4 in den anderen Sprachversionen, insbesondere den weiteren Amtssprachen der EU von „normal use“ bzw. „utilisation normale“ die Rede. Die Wendung „bestimmungsgemäßer Gebrauch“ sei demgegenüber enger, denn es seien auch Benutzungshandlungen denkbar, die nicht „bestimmungsgemäß“ aber „normal“ seien. Das deutsche Gesetz müsse demnach richtlinienkonform ausgelegt werden.
Weiter führt der EuGH aus, dass die Einschränkung auf den „normalen Gebrauch“ eng auszulegen sei, es seien nach Sinn und Zweck nur solche Handlungen nicht „normal“, die ausschließlich der Instandhaltung, Wartung oder Reparatur dienten.
Der BGH wird nun darüber zu entscheiden haben, ob das Abmontieren des Sattels, bspw. zur Diebstahlsverhinderung, oder das Hochheben des Rades zur Montage auf einem Fahrradträger am Auto zum normalen Gebrauch zählen.
Stellungnahme
Es spricht viel dafür, dass die Auffassung des DPMA richtig ist und der BGH sich dieser Auffassung anschließen wird. Legt man den weitergehenden Wortlaut der übrigen Sprachfassungen und die Ausführungen des EuGH zugrunde, so geht es bei der „normalen“ Verwendung nicht nur um die „bestimmungsgemäße“ Verwendung des Fahrrads, sondern um alles, was der Nutzer mit dem Rad anfangen kann, was nicht zur Instandhaltung, Wartung oder Reparatur zählt. Das Abmontieren eines Fahrradsattels als Diebstahlschutz oder auch die Montage des Fahrrads auf einem Fahrradträger am Auto für eine Urlaubsfahrt dürften „normale“ Benutzungshandlungen sein, auch wenn sie mit dem eigentlichen Radfahren nichts zu tun haben.
Praktische Bedeutung hat dies auch für andere Gebiete. Bspw. kann eine charakteristische Unterseite einer Pfanne oder eines Kochtopfs designrechtlichen Schutz genießen, auch wenn das Kochgeschirr „bestimmungsgemäß“ mit der Unterseite auf der Herdplatte verwendet wird. Es gehört aber zweifelsohne zum „normalen“ Gebrauch, das Kochgeschirr mit dem Boden nach oben in die Geschirrspülmaschine zu legen, wodurch der Boden für den Benutzer sichtbar wird.
Erstaunlich ist, dass sich die Abweichung des deutschen Gesetzes von der Richtlinie 98/71/EG erst jetzt als praxisrelevant erwiesen hat, nachdem diese Richtlinie seit 25 Jahren in Kraft ist.
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