Die Einheitlichkeit der deutschen Vergaberechtsprechung steht mal wieder auf dem Spiel: Nachdem die erste Vergabekammer des Bundes in einem aktuellen Beschluss vom 05.03.2010 (VK 1-16/10) gerade erst ausgeführt hatte, dass die Rechtsprechung des europäischen Gerichtshofs betreffend die Europarechtswidrigkeit unbestimmter Rechtsmittelfristen im Vergabenachprüfungsverfahren die deutsche Regelung in § 107 Abs. 3 Nr. 1 GWB unberührt lasse, hat nunmehr die Vergabekammer Hamburg genau entgegengesetzt entschieden. Mit Beschluss vom 07.04.2010 (VK BSU 2/10 und 3/10) hat die Vergabekammer ausgeführt, sie sehe sich durch die jüngsten Urteile des EuGH vom 28.01.2010 (Rs. C-406/08 und Rs. C-456/08) gehindert, die Vorschrift des § 107 Abs. 3 Nr. 1 GWB anzuwenden. Die Vergabekammer sehe keinen Raum für eine europarechtskonforme Auslegung des hierin enthaltenen, unbestimmten Rechtsbegriffs der „Unverzüglichkeit“.
Die Entscheidung der VK Hamburg
Anders als die Vergabekammer des Bundes sieht die Vergabekammer Hamburg keinen wesentlichen Unterschied zwischen der vom EuGH beanstandeten britischen Regelung und der deutschen Regelung in § 107 Abs. 3 Nr. 1 GWB. Zwar handele es sich bei § 107 Abs. 3 Nr. 1 GWB nicht um eine unmittelbare Ausschlussfrist für das Nachprüfungsverfahren, sondern „nur“ um eine vorgeschaltete Anforderung an die Rügeobliegenheit der Bieter. Die tatsächlichen Wirkungen beider Regelungen seien jedoch gleich. Ziel der Richtlinie 89/665/EG sei es, die zügige Behandlung von Nachprüfungsanträgen unter Beachtung der Erfordernisse der Rechtssicherheit zu verwirklichen. Zu diesem Zweck müsse eine Fristenregelung hinreichend genau, klar und vorhersehbar sein, damit der Einzelne seine Pflichten kennen können. Nach Auffassung der Vergabekammer genügt § 107 Abs. 3 Nr. 1 GWB diesen Anforderungen nicht. Dies gelte umso mehr, als die vom EuGH geprüfte Bestimmung eine Höchstfrist von drei Monaten enthalten habe, während die deutsche Regelung ein solches Korrektiv nicht enthalte.
Praxishinweise
Die Entscheidung der VK Hamburg mag im Ergebnis zutreffen. Denn der formale Hinweis der Vergabekammer des Bundes auf die Unterschiede der in Rede stehenden Regelungen ist ebenso fragwürdig wie die Ansicht der Vergabekammer, der Begriff der „Unverzüglichkeit“ sei im deutschen Recht schon deshalb nicht unbestimmt, weil er in § 121 BGB definiert werde als „ohne schuldhaftes Zögern“. Dennoch ist nicht zweifelsfrei zu entscheiden, wie der EuGH die deutsche Regelung beurteilen würde. Mit Bedauern ist deshalb festzustellen, dass weder die VK Bund noch die VK Hamburg konsequenterweise eine Vorlagefrage an den EuGH über die Vereinbarkeit von § 107 Abs. 3 Nr. 1 GWB mit dem Europarecht gerichtet haben. Eine solche Vorlage hätte im Ergebnis Rechtssicherheit geschaffen und die Uneinheitlichkeit der deutschen Rechtsprechung, wie sie sich nunmehr zeigt, verhindert. Solange die Rechtslage jedoch unklar ist, bleibt es dabei, dass Bieter sicherheitshalber schnellstmöglich rügen müssen, um eine spätere Präklusion ihrer Rüge vor der Vergabekammer auszuschließen. Auftraggeber sollten dagegen weiterhin die Möglichkeit nutzen, in der Bekanntmachung eine konkrete Rügefrist zu benennen.