Nach einiger Verzögerung hat nunmehr am 08.05.2013 der zuständige Wirtschaftsausschuss des nordrhein-westfälischen Landtags sein Einvernehmen zum Entwurf der bereits seit geraumer Zeit angekündigten Ausführungsverordnung zum Tariftreue- und Vergabegesetz Nordrhein-Westfalen („RVO TVgG NRW“) erteilt. Die RVO TVgG NRW wird daher zum 01.06.2013 in Kraft treten und ist ab diesem Zeitpunkt bei allen neu begonnenen Vergabeverfahren zu beachten. Zu den Auswirkungen der neuen Rechtsverordnung auf die Vergabepraxis hat zudem das nordrhein-westfälische Ministerium für Wirtschaft, Energie, Industrie, Mittelstand und Handwerk („Wirtschaftsministerium NRW“) einen Leitfaden („Praxisleitfaden“) herausgegeben. Gegenüber dem ursprünglichen Entwurf der Rechtsverordnung enthalten die nun verabschiedete RVO TVgG NRW und der dazu ergangene Praxisleitfaden unter anderem die folgenden Besonderheiten:
Nachhaltigkeitsaspekte nur bei der Beschaffung von Waren, Geräten und Ausrüstungen als Hauptleistungsgegenstand
§ 1 Abs. 3 RVO TVgG NRW legt erstmals fest, dass sämtliche im TVgG festgelegten Nachhaltigkeitsaspekte (nicht aber auch Tariftreueaspekte!) von vornherein nur dann zu beachten sind, wenn im Rahmen eines öffentlichen Auftrags Waren, Geräte oder Ausrüstungen den Hauptleistungsgegenstand oder wesentliche Bestandteile des Auftrags darstellen. Der Praxisleitfaden des Wirtschaftsministeriums führt insoweit auf, dass dies bei Dienstleistungs- und Bauaufträgen nur dann der Fall sei, wenn die Kosten der mit der Auftragserteilung anzuschaffenden Gegenstände mehr als 20 % erreichten. Eine Ausnahme solle allerdings dann gelten, wenn ein Produkt betroffen sei, das einen „besonderen Funktionszusammenhang zu Nachhaltigkeitsaspekten“ aufweise. Als Beispiel nennt der Praxisleitfaden in diesem Zusammenhang „sensible Produkte“ im Sinne des § 14 Abs. 4 RVO TVgG oder Produkte mit besonderer Umweltrelevanz. Seien solche Produkte von der Ausschreibung betroffen, so fänden die Nachhaltigkeitsaspekte des TVgG Anwendung, auch wenn diese Produkte keine 20 % der Kosten des Auftrags ausmachten.
Berücksichtigung von Aspekten des Umweltschutzes und der Energieeffizienz
Nach der RVO TVgG NRW ist grundsätzlich bei allen energieverbrauchsrelevanten Beschaffungen – auch im Unterschwellenbereich – das „höchste Leistungsniveau an Energieeffizienz“ zu fordern. Ausnahmen sollen nur in Sonderfällen möglich sein, nämlich dann, wenn entweder diese Vorgabe am Markt nicht erfüllt werden kann oder wenn sie zu unangemessenen Leistungseinschränkungen oder unangemessenen Mehrkosten führen würde. Hierzu stellt der Praxisleitfaden des Wirtschaftsministeriums klar, dass von unangemessenen Mehrkosten immer dann auszugehen sei, wenn entweder der Mehrpreis bei den Anschaffungskosten im Verhältnis zur Einsparung bei den Betriebskosten nicht amortisiert werden könne oder wenn allgemein für die Anschaffung eines bestimmten Produktes nur ein begrenztes finanzielles Budget zur Verfügung stehe, welches durch die Forderung nach dem höchsten Leistungsniveau überschritten würde.
Soweit besonders umweltfreundliche und energieeffiziente Varianten in Betracht kommen, hat der öffentliche Auftraggeber zudem zukünftig in der Regel Nebenangebote zuzulassen. Neu ergänzt wurde in diesem Zusammenhang in der RVO TVgG NRW, dass in diesen Fällen regelmäßig auch Wertungskriterien vorzugeben sind, die es tatsächlich ermöglichen, die Umweltfreundlichkeit bzw. Energieeffizienz von Nebenangeboten zu berücksichtigen.
Schließlich gibt der Praxisleitfaden auch Hinweise zu der Frage, in welchen Fällen eine Lebenszykluskostenbetrachtung der zu beschaffenden Produkte anzustellen ist und wie eine solche Betrachtung im Einzelnen aussehen kann und sollte. In diesem Zusammenhang wird insbesondere auch die besondere Bedeutung einer ordnungsgemäßen Begründung und Dokumentation entsprechender Entscheidungen im Vergabevermerk herausgestellt.
Berücksichtigung von sozialen Aspekten im Vergabeverfahren
Die Endfassung der RVO TVgG unterscheidet sich im Hinblick auf die Vorgaben zur Einhaltung der ILO-Kernarbeitsnormen nicht wesentlich von der ursprünglichen Entwurfsfassung der Landesregierung. Auch weiterhin haben daher die Bieter im Vergabeverfahren stets eine Verpflichtungserklärung zur Einhaltung der ILO-Kernarbeitsnormen abzugeben, die sowohl Waren, die noch herzustellen oder zu beschaffen sind, als auch bereits beschaffte (Lager-)Waren erfasst. Ausnahmen sind ausweislich des Praxisleitfadens nur dann möglich, wenn eine Produktkategorie betroffen ist, für die keine verlässlichen Zertifizierungen in Hinblick auf eine ILO-konforme Herstellung von Waren vorhanden und in denen auch trotz aller Anstrengungen keine belastbaren Händler- oder Herstellererklärungen zu erhalten sind. Als Beispiel einer solchen Produktkategorie nennt der Praxisleitfaden Smartphones, weist aber gleichzeitig darauf hin, dass sich diese Einordnung zeitnah ändern könnte. Vor dem Hintergrund der stetigen Marktveränderungen wird daher allen Auftraggebern in dem Praxisleitfaden angeraten, vor Absehen von einer Verpflichtungserklärung zunächst aktuelle und verlässliche Informationen (etwa bei Nichtregierungsorganisationen) einzuholen. Zudem wird wiederum auf die Relevanz einer ordnungsgemäßen Begründung und Dokumentation der Entscheidung, von einer Verpflichtungserklärung abzusehen, verwiesen.
Soweit für den Auftrag sogenannte „sensible Produkte“ verwendet werden (hierzu zählen unter anderem Bekleidung, Stoffe und Textilwaren oder Büromaterialien, die die Rohstoffe Holz, Gesteinsmehl und Kautschuk enthalten, sowie Produkte der Informations- und Kommunikationstechnologie) und diese in einem der Länder hergestellt oder gewonnen worden sind, die in der jeweils zum Zeitpunkt der Angebotsabgabe geltenden und von der OECD herausgegebenen Liste der Entwicklungs- und Schwellenländer (DAC-Liste der „Entwicklungsländer und -gebiete“) aufgeführt sind, so muss der Bieter durch ein Siegel, ein Zertifikat oder ein vergleichbares Dokument den Nachweis erbringen, dass die von ihm eingesetzten Produkte ohne Missachtung der in den ILO-Kernarbeitsnormen festgelegten Mindeststandards gewonnen oder hergestellt worden sind. Alternativ kann er erklären, dass er sich vergewissert hat, dass die Produkte ohne Missachtung der ILO-Kernarbeitsnormen gewonnen oder hergestellt worden sind oder dass im Unternehmen wirksame Maßnahmen ergriffen worden sind, um die Verwendung von Produkten zu vermeiden, die unter Missachtung der ILO-Kernarbeitsnormen gewonnen oder hergestellt worden sind. Der Verweis darauf, dass der Bieter unter Beachtung der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns entsprechend § 347 HGB davon ausgehe, dass die in den ILO-Kernarbeitsnormen festgelegten Mindeststandards bei der Gewinnung oder Herstellung der Waren beachtet wurden, soll demgegenüber in den sensiblen Produktkategorien nur noch dann möglich sein, wenn die Produkte nicht aus den Ländern der DAC-Liste stammen.
Frauenförderung und Vereinbarkeit von Beruf und Familie
Schließlich konkretisiert die RVO TVgG NRW die Anforderungen an die vom Gesetz geforderte Förderung von Frauen sowie der Förderung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie und bringt diese damit erstmals zur Anwendung. Es bleibt dabei auch in der Endfassung der Verordnung bei einer Staffelung der im Unternehmen des Auftragnehmers umzusetzenden Maßnahmen je nach Unternehmensgröße. Allerdings werden die im ursprünglichen Verordnungsentwurf vorgesehenen Maßnahmen in der Endfassung der RVO TVgG NRW noch einmal um vier weiter Maßnahmen ergänzt. So zählen zu diesen Maßnahmen nun auch das Angebot betrieblicher Kinderbetreuung und das Angebot von Ferienprogrammen zur Überbrückung der Betreuungslücke für Kinder berufstätiger Eltern in Kindergarten- bzw. Schulferien.
Während der ursprüngliche Entwurf der RVO TVgG NRW vorsah, dass die entsprechenden Maßnahmen nach ihrer Auswahl im Unternehmen des Auftragnehmers „umzusetzen“ seien, wird in der Endfassung der Verordnung nunmehr konkretisiert, dass die Maßnahmen „durchzuführen oder einzuleiten“ seien. In diesem Zusammenhang enthält der Praxisleitfaden umfassende Hinweise zu der erforderlichen Dokumentation der Umsetzungsmaßnahmen durch den Auftragnehmer. Zudem werden alle Auftragnehmer verpflichtet, die Dokumentation der durchzuführenden bzw. durchgeführten Maßnahmen mindestens ein Jahr aufzubewahren und im Unternehmen (bspw. durch Auslegung, Intranetseite oder Hausmitteilung) zu veröffentlichen.
Muster für die Verpflichtungserklärungen und ergänzenden Vertragsbedingungen
Schließlich ist zu beachten, dass die der RVO TVgG NRW beigefügten Anlagen, welche Muster für die nach der RVO TVgG NRW erforderlichen Verpflichtungserklärungen und besonderen Vertragsbedingungen enthalten, noch einmal gegenüber der ursprünglichen Entwurfsfassung überarbeitet worden sind. Es ist deshalb sicherzustellen, dass spätestens ab dem 01.06.2013 ausschließlich die neuen Formulare verwendet werden.