Grundanforderungen
Konkret fordert die Europäische Kommission als Grundanforderungen für die Vergabe von Aufträgen mit Binnenmarktrelevanz zunächst die Verpflichtung zur Sicherstellung einer angemessenen Bekanntmachung. Je interessanter der Auftrag für potentielle Bieter aus anderen Mitgliedstaaten sei, desto weiter solle er bekannt gemacht werden. Angemessene und gängige Veröffentlichungsmedien seien unter anderem das Internet, nationale Amts- und Ausschreibungsblätter sowie regionale oder überregionale Zeitungen und Fachpublikationen, lokale Medien und schließlich das Amtsblatt der Europäischen Union/Ted-Datenbank. Letztgenannte Form der Bekanntmachung dürfte insbesondere bei größeren Aufträgen die attraktivste Möglichkeit darstellen. Inhalt der Bekanntmachung müsse eine Kurzbeschreibung der wesentlichen Punkte des zu erteilenden Auftrags und des Vergabeverfahrens sowie eine Aufforderung zur Kontaktierung des Auftraggebers sein. Die Bekanntmachung und jegliche zusätzliche Unterlagen sollten all diese Informationen enthalten, die ein Unternehmen aus einem anderen Mitgliedstaat normalerweise für die Entscheidung darüber benötige, ob es das Interesse an dem Auftrag bekunden solle oder nicht. Nur ausnahmsweise könne von einer vorherigen Veröffentlichung einer Bekanntmachung – ebenso wie bei der „klassischen“ Auftragsvergabe – abgesehen werden.
Bei der Auftragsvergabe sei zudem die Pflicht zur Gewährleistung eines fairen und unparteiischen Verfahrens einzuhalten. In der Praxis sei dem Gleichbehandlungs- und Transparenzgebot am besten durch eine diskriminierungsfreie Beschreibung des Auftragsgegenstandes, einem gleichen Zugang für Wirtschaftsteilnehmer aus allen Mitgliedstaaten, einer gegenseitigen Anerkennung von Diplomen, Prüfungszeugnissen und sonstigen Befähigungsnachweisen, angemessener Fristen sowie transparenter und objektiver „Spielregeln“ des Verfahrens Rechnung zu tragen. Eine Begrenzung der Zahl der Bewerber, die zur Abgabe eines Angebots aufgefordert werden, sei zulässig, sofern dies auf transparente und diskriminierungsfreie Weise geschehe. Wichtig sei schließlich, dass die Entscheidung über die Vergabe des Auftrags transparent und nachvollziehbar sei. Bei Vergabeverfahren mit vorausgehenden Verhandlungen seien diese außerdem so zu organisieren, dass keiner der Bieter Zugang zu mehr Informationen als andere habe und dass jegliche ungerechtfertigte Bevorteilung einzelner Bieter ausgeschlossen sei.
Binnenmarktrelevanz
Die in der Mitteilung festgehaltenen Grundanforderungen für Unterschwellenvergaben etc. greifen „nur“, wenn die entsprechenden Vergabevorhaben Binnenmarktrelevanz haben, d. h., „möglicherweise für Wirtschaftsteilnehmer eines anderen Mitgliedstaates von Interesse sein könnten“. Ob eine Binnenmarktrelevanz vorliegt, muss nach Auffassung der Kommission in jedem einzelnen Fall der jeweilige Auftraggeber selbst prüfen und entscheiden. Der Entscheidung müsse eine Prüfung der Umstände des jeweiligen Falls vorausgehen, wobei Sachverhalte wie der Auftragsgegenstand, der geschätzte Auftragswert, die Besonderheiten des betreffenden Sektors (Größe und Struktur des Marktes, wirtschaftliche Gepflogenheiten usw.) sowie die geographische Lage des Orts der Leistungserbringung zu berücksichtigen seien.
Rechtsschutz
Von großer praktischer Relevanz ist zudem, dass nach Ansicht der Kommission der einzelne Bieter auch bei Unterschwellenvergaben effektiven gerichtlichen Schutz in Anspruch nehmen können müssen. Ein derartiger Rechtsschutz resultiere aus den allgemeinen Rechtsgrundsätzen. Soweit es keine einschlägigen gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen gebe, sei es Aufgabe der Mitgliedstaaten, für die erforderlichen Vorschriften und Verfahren zur Gewährleistung eines effektiven gerichtlichen Schutzes zu sorgen. Konkret müssten zumindest negative Entscheidungen zu Lasten am Auftrag interessierter Personen (also insbesondere die Entscheidung, einem anderen Bewerber den Zuschlag zu erteilen) überprüfbar sein. Dabei dürften die zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe nicht weniger wirksam sein als bei entsprechenden Ansprüchen, die auf nationales Recht gestützt seien (Äquivalenzgrundsatz). Auch dürften sie keinesfalls so ausgestaltet sein, dass der Rechtsschutz praktisch unmöglich oder übermäßig erschwert sei (Effektivitätsgebot).
Vertragsverletzungsverfahren durch die Kommission
Erhält die Kommission Kenntnis von einer möglichen Verletzung der Grundanforderungen bei vorbezeichneten Vergabevorhaben, prüft sie die Binnenmarktrelevanz des fraglichen Auftrags vor dem Hintergrund der fallspezifischen Umstände. Damit sieht die Mitteilung (entgegen dem ursprünglich vorgesehenen Entwurf) die Festlegung einer De-minimis-Grenze (diskutiert wurde eine 10 %- bis 20 %-Grenze) für die Einleitung von Vertragsverletzungsverfahren durch die Europäische Kommission bei Verstößen gegen die dargelegten Grundanforderungen nicht vor. Die Kommission wird allerdings nur dann ein Verfahren nach Art. 226 EG einleiten, wenn dies angesichts der Schwere der Vertragsverletzung und ihrer Auswirkungen auf den Binnenmarkt angemessen erscheint.
Fazit
Das Ziel der interpretativen Mitteilung, Rechtssicherheit und effektiven Rechtsschutz durchweg im Beschaffungssektor zu garantieren, erscheint grundsätzlich lobenswert. Problematisch wird allerdings oftmals die Umsetzung bzw. Anwendung der Mitteilung sein. Dies gilt insbesondere im Bereich der Unterschwellenvergabe. Hier erscheint die Regelung, dem jeweiligen öffentlichen Auftraggeber die Prüfung der Binnenmarktrelevanz aufzuerlegen, wenig gelungen. Unabhängig von dem hiermit verbundenen zusätzlichen Bürokratieaufwand ist in der Praxis mit einer Fülle von neuen Nachprüfungsverfahren zu rechnen, die gerade die Entscheidung des jeweiligen öffentlichen Auftraggebers über die – bestehende oder eben gerade nicht bestehende – Binnenmarktrelevanz zum Gegenstand haben dürften. In Deutschland dürfte Unterschwellenvergaben nur selten die Binnenmarktrelevanz abgesprochen werden. Dies wäre tatsächlich nur der Fall, wenn die entsprechenden Leistungen ausschließlich lokalen Charakter besäßen. Angesichts der geografischen Gegebenheiten Deutschlands dürfte dies eher selten der Fall sein.
Auch die Erwägungen zum Rechtsschutz sind brisant. Denn für Unterschwellenvergaben hat sich der deutsche Gesetzgeber auch im Rahmen der Vergaberechtsnovelle für die Beibehaltung der Zweiteilung des Vergaberechts entschieden und damit einen gesondert kodifizierten Rechtsschutz gerade unterhalb der Schwellenwerte abgelehnt. Eben diese (in Deutschland bislang für verfassungsgemäß gehaltene) Zweiteilung greift die Kommission mit ihrer Mitteilung an und unterstützt die (wenigen) Stimmen in der vergaberechtlichen Literatur, die in jüngerer Zeit auch für Unterschwellenvergaben mit Binnenmarktrelevanz eine Überprüfbarkeit gefordert haben.
Insgesamt hat die Bundesregierung – ebenso wie Frankreich – bereits ihre ablehnende Haltung gegenüber der Mitteilung der Europäischen Kommission deutlich gemacht. Kritisiert wird insbesondere eine Kompetenzüberschreitung der Europäischen Kommission. Zwar betont die Kommission, dass sie in ihrer Mitteilung lediglich ihr Verständnis der Rechtsprechung des EuGH erläutere und sie hierdurch keine neuen rechtlichen Regeln einführe. Gleichwohl kommt derartigen Mitteilungen, dies zeigt die tägliche Praxis, erhebliche praktische Bedeutung zu. Die weitere politische Entwicklung ist daher mit großer Spannung zu erwarten. Von erheblicher Bedeutung wird insbesondere die Frage nach einem effektiven Rechtsschutz bei Unterschwellenvergaben sein.