In der Sache gab die Antragstellerin des Ausgangsverfahrens erfolglos ein Angebot in einem nationalen Vergabeverfahren ab. Sie rügte die mangelnde europaweite Ausschreibung und die nachfolgende Vergabeentscheidung als rechtswidrig. Der Nachprüfungsantrag wurde als unzulässig mit der Begründung abgewiesen, dass die Frist für die Rüge der Wahl der Verfahrensart (§ 107 Abs. 3 Satz 2 GWB) abgelaufen sei. Die verspätete Rüge führte dazu, dass auch spätere aus der Verletzung resultierende Verstöße nicht mehr überprüft werden konnten.
Wissen als Schlüsselfaktor
Die Generalanwältin legt dar, dass die Rügefrist an das Kriterium der Kenntnis oder des Wissens eines Bieters von einem Vergaberechtsverstoß anknüpfe. Die Anknüpfung an das Wissen des Bieters dürfe die Ausübung von Rechtsschutz jedoch nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren. Bei der Prüfung sei neben der Länge der Frist auch die Umstände des fristgebundenen Nachprüfungsverfahrens relevant. Wissen sei der Schlüsselfaktor.
Grad an Kenntnis
Hinsichtlich des Grades an Kenntnis bzw. der Art von Kenntnis eines Verstoßes würde das Erfordernis tatsächlicher – oder subjektiver – Kenntnis des Bieters nach Auffassung der Generalanwältin der Rechtssicherheit zuwider laufen. Es könnte unter Umständen schwierig sein zu beweisen, dass ein Bieter tatsächliche Kenntnis von einem Verstoß gehabt habe; das Erfordernis eines solchen Beweises stünde kaum im Einklang mit der Notwendigkeit eines raschen Nachprüfungsverfahrens. In der Konsequenz hält es die Generalanwältin deshalb für „besser“, als Prüfungsmaßstab die vermutete – oder objektive – Kenntnis anzulegen. Bei einem „durchschnittlichen fachkundigen und im Rahmen des Üblichen sorgfältigen Bieters“ könne dementsprechend vermutet werden, dass er in seinem Fachbereich Erfahrung bei der Abgabe von Angeboten besitze. Von ihm könne erwartet werden, dass er mit den wichtigsten rechtlichen Gesichtspunkten der Märkte seines Tätigkeitsbereiches allgemein vertraut sei und sie verstehe. Dies würde eine allgemeine Kenntnis der nationalen und gemeinschaftsweiten Ausschreibungsverfahren sowie der maßgeblichen Schwellenwerte einschließlich der Möglichkeiten zur Beanstandung von Entscheidungen nach beiden Verfahren und der Beanstandungsfristen bedeuten.
Fazit
Folgt der EuGH den Schlussanträgen der Generalanwältin Sharpston, bedeutet dies für Bieter eine erhebliche Einbuße im Hinblick auf einen Vergaberechtsschutz. Bieter müssten nach Erhalt der Ausschreibungsunterlagen diese zwingend auf etwaige Vergaberechtsverstöße hin durchsehen. Die Anforderungen an die Rügefrist, die bereits derzeit in der vergaberechtlichen Rechtsprechung sehr streng ausgestaltet sind, würden voraussichtlich zukünftig noch strengere Maßstäbe ansetzen. Auch wenn zu hoffen bleibt, dass sich die nationale Rechtsprechung nicht der Auffassung anschließt, von einem Bieter könne eine umfassende Kenntnis von allen vergaberelevanten Gesichtspunkten erwartet werden, dürften die bemerkenswerten Äußerungen der Generalanwältin doch zumindest dazu führen, dass Bieter in Zukunft gut beraten sind, die Ausschreibungsunterlagen zügig nach Erhalt auf etwaige Vergaberechtsverstöße hin durchzusehen. Es erscheint jedenfalls wünschenswert, dass der EuGH den in vielerlei Hinsicht praxisfernen Schlussanträgen der Generalanwältin angesichts des Erfordernisses nach effektivem Rechtsschutz nicht folgen wird.