Nach dem Urteilsspruch hat Deutschland trotz inzwischen erfolgter Aufhebung des Müllentsorgungsvertrages durch die Stadt Braunschweig dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 228 EG verstoßen, dass sie bei Ablauf der von der Kommission in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzten Frist nicht die Maßnahmen ergriffen hat, die sich aus einem vorherigen Urteil des EuGH (vom 10.04.2003, Rs. C-20/01 und C-28/01) in Bezug auf die rechtswidrige Vergabe eines Müllentsorgungsvertrages ergeben. In der Sache hatte die Stadt Braunschweig Mitte 1999 für die Dauer von 30 Jahren im Wege eines vergaberechtswidrigen Verhandlungsverfahrens Restabfall zur thermischen Behandlung an einen privaten Entsorger vergeben. Der EuGH hatte mit Urteil vom 10.04.2003 festgestellt, dass Deutschland bei der Vergabe dieses Auftrags gegen das EU-Vergaberecht verstoßen habe.
Nichteinhaltung des Gemeinschaftsrechts nicht gerechtfertigt
In der Sache haben die europäischen Richter deutlich gemacht, dass der Grundsatz „pacta sunt servanda“ – wie auch die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes sowie das Grundrecht auf Eigentum – nicht dazu führen könnten, dass Mitgliedstaaten an vergaberechtswidrig geschlossenen Verträgen festhielten und einer festgestellten Vergaberechtsverletzung nicht abhelfen. Ein Mitgliedstaat könne sich nicht auf Bestimmungen, Übungen oder Umstände einer internen Rechtsordnung berufen, um die Nichteinhaltung der aus dem Gemeinschaftsrecht folgenden Verpflichtungen zu rechtfertigen. Die Mitgliedstaaten seien im Rahmen ihrer gemeinschaftsrechtlichen Verantwortung vielmehr zur Schaffung eines Binnenmarktes und damit zur Abhilfe auch nach Vertragsschluss fortbestehender Vergaberechtsverstöße verpflichtet. Nicht ausreichend sei, so der EuGH ausdrücklich, allein den Abschluss neuer Verträge zu verhindern, dagegen jahrzehntelang fortwährende Verträge in ihrer vollen Wirkung zu belassen.
Mitgliedstaaten gefordert
Obwohl der EuGH in seiner Entscheidung entgegen den Schlussanträgen der Generalanwältin vom 28.03.2007 keine grundsätzliche und zwingende Aufhebungspflicht ausgesprochen hat und es damit grundsätzlich dem einzelnen Mitgliedstaat überlässt, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um dem vergaberechtswidrigen Zustand abzuhelfen, erscheint es gleichwohl für die Zukunft ratsam, über eine gesetzliche Regelung zur Kündigung vergaberechtswidrig zustande gekommener Verträge nachzudenken. Insofern ist der Gesetzgeber gefordert. Denn derzeit – und dies gesteht der EuGH zu – können vorgenannte Grundsätze und Grundrechte gegenüber einem öffentlichen Auftraggeber von dessen Vertragspartner bei einer Kündigung des Vertrages geltend gemacht werden. Da ein etwaiges Sonderkündigungsrecht auf der Grundlage von §§ 313, 314 BGB nur sehr selten durchdringen dürfte (unabhängig davon, dass sich ein öffentlicher Auftraggeber unter Umständen schadenersatzpflichtig macht), wäre ein öffentlicher Auftraggeber auf eine einvernehmliche Vertragsaufhebung verwiesen. Dies kann aber nicht ausreichend die wirksame Durchsetzung des EU-Vergaberechts garantieren.
Fazit
Nach dieser Entscheidung sehen sich insbesondere Kommunen derzeit vor eine schwierige Situation gestellt. Es steht zu erwarten, dass die Europäische Kommission vor dem Hintergrund des ergangenen Urteils zukünftig weitere Vertragsverletzungsverfahren wegen Vergaberechtsverstößen – insbesondere im Hinblick auf langfristig geschlossene Verträge – einleiten oder ruhende Verfahren wieder aufnehmen wird und damit letztlich immensen politischen Druck auf die betroffenen Kommunen ausübt. Daher ist es Kommunen anzuraten, bereits jetzt möglichst vorausschauend und proaktiv in Absprache mit ihren Vertragspartnern auf die Vorgaben des EuGH zu reagieren. Zukünftig sollte zudem darauf geachtet werden, in Ausschreibungsunterlagen bzw. entsprechende Verträge eine Art „Ausstiegsszenario“ für den Fall eines festgestellten Vergaberechtsverstoßes aufzunehmen, welches die Rückabwicklung vergaberechtswidrig geschlossener Verträge einfacher zu realisieren hilft.