Die Zahlung eines spezifischen Mindestlohns für öffentliche Aufträge kann jedenfalls dann nicht verlangt werden, wenn die beauftragten Arbeiten komplett durch einen Subunternehmer im Ausland erledigt werden. Eine solche Vorgabe schränkt die Dienstleistungsfreiheit in unzulässiger Weise ein. Das hat der Europäische Gerichtshof („EuGH“) mit Urteil vom 18.09.2014 (Rechtssache C-549/13) entschieden.
Der Hintergrund des EuGH-Urteils
Seit dem 01.05.2012 müssen sich Unternehmen, die am Erhalt eines öffentlichen Auftrags durch einen Auftraggeber in Nordrhein-Westfalen interessiert sind, aufgrund einer Vorgabe des Tariftreue- und Vergabegesetzes Nordrhein-Westfalen („TVgG NRW“) verpflichten, ihren Arbeitnehmern mindestens einen Stundenlohn von 8,62 EUR zu zahlen, sofern nicht bereits aufgrund anderer Rechtsvorschriften ein noch höherer Mindestlohn zu zahlen ist. Eine ebensolche Verpflichtungserklärung muss sich der Bieter zudem auch von seinen Nachunternehmern abgeben lassen.
In einem Vergabeverfahren der Stadt Dortmund betreffend die Aktendigitalisierung bewarb sich unter anderem die Bundesdruckerei – mit einem Subunternehmer aus Polen, der letztlich 100 % der ausgeschriebenen Leistungen durch bei ihm beschäftigte Arbeitnehmer in Polen ausführen lassen wollte. Dieser Subunternehmer weigerte sich, die von ihm verlangte Mindestlohnerklärung abzugeben – denn schließlich sei ein Mindestlohn nach den für ihn einschlägigen polnischen Gesetzen und Tarifverträgen nicht vorgesehen. Auch sei die Zahlung eines solchen Mindestentgelts angesichts der in Polen bestehenden Lebensverhältnisse nicht üblich. Der Streit landete schließlich vor der Vergabekammer Arnsberg, die dem EuGH mit Beschluss vom 26.09.2013 (VK 18/13) die Frage nach der Vereinbarkeit der nordrhein-westfälischen Mindestlohnregelung mit dem Europarecht vorlegte.
Die Beantwortung der Vorlagefrage
Der EuGH hat nun dem Subunternehmer der Bundesdruckerei Recht gegeben: Ein Mitgliedstaat könne, so der EuGH, von einem in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Subunternehmer eines Bieters grundsätzlich nicht verlangen, bestimmte Mindestlöhne zu zahlen, wenn in dem fraglichen anderen Mitgliedstaat die Mindestlohnsätze und Lebenshaltungskosten niedriger seien. Denn hierdurch würde ein legitimer Wettbewerbsvorteil des Subunternehmers negiert und damit die Erbringung der Dienstleistung durch ihn unterbunden, behindert oder doch wenigstens weniger attraktiv gemacht. Dies stelle einen Eingriff in die Dienstleistungsfreiheit des Art. 56 AEUV dar.
Zwar könne ein solcher Eingriff in Einzelfällen durch das Ziel des Arbeitnehmerschutzes und/oder das Ziel der Sicherung der Stabilität der Systeme der sozialen Sicherheit gerechtfertigt sein. Da die Regelung des TVgG NRW aber nur für öffentliche Aufträge gelte, sei sie schon nicht geeignet, diese Ziele zu erreichen – denn es gebe keine Gründe dafür, warum dann die für private Auftraggeber tätigen Arbeitnehmer weniger Schutz benötigten. Zudem erscheine die Maßnahme jedenfalls unverhältnismäßig, wenn sie sich auch auf Sachverhalte beziehe, in denen Arbeitnehmer einen Auftrag in Mitgliedstaaten mit niedrigerem Lohnniveau ausführten – und in denen die betroffenen Arbeitnehmer schließlich auch keinen Anspruch auf deutsche Sozialleistungen hätten.
Bewertung der Entscheidung
Die Entscheidung des EuGH betrifft zwar unmittelbar nur das Dortmunder Vergabeverfahren, in dessen Rahmen die Vergabekammer Arnsberg den EuGH angerufen hatte. Sie dürfte jedoch weitreichende Konsequenzen auch für das TVgG NRW insgesamt und weitere, ähnliche Regelungen in anderen Bundesländern haben. Denn wenn man die sehr fallbezogenen Aussagen des EuGH abstrahiert und im Kontext der dogmatischen Begründung des EuGH sieht, dürften die gesetzlichen Mindestlohnverpflichtungen wohl auch in zahlreichen anders gelagerten Fällen keine Anwendung mehr finden dürfen, so etwa, wenn ein Bieter selbst seine Leistungen im EU-Ausland erbringen oder er jedenfalls für Teilleistungen Subunternehmer im EU-Ausland einsetzen möchte. Die Landesgesetze müssen nun nach der Entscheidung des EuGH also entweder ausschließlich auf das Inland (und gegebenenfalls andere EU-Mitgliedstaaten mit ähnlichem Mindestlohn- und Lebenshaltungskostenniveau) beschränkt werden oder aber komplett unangewendet bleiben. Solange dabei eine klare gesetzgeberische Bestimmung aussteht, bleiben die Auftraggeber mit dieser Entscheidung letztlich allein. Denn dazu, ob und wie das TVgG gegebenenfalls einschränkend europarechtskonform ausgelegt werden kann und muss oder aber ob die in Rede stehende gesetzliche Mindestlohnvorschrift unmittelbar unangewendet zu bleiben hat, gibt der EuGH keine Antwort. Ebenso bleibt offen, ob und wenn ja inwieweit der EuGH den Sachverhalt anders beurteilt hätte, wenn in Deutschland ein flächendeckender oder branchenspezifischer Mindestlohn in mindestens vergleichbarer Höhe existiert hätte – schließlich wäre dann jedenfalls das Argument des EuGH entfallen, dass der vergabespezifische Mindestlohn Arbeitnehmer bei öffentlichen Aufträgen ungerechtfertigt besser stelle als bei einem Tätigwerden für private Auftraggeber. Es bleibt also einmal mehr zu hoffen, dass den Auftraggebern möglichst zeitnah eine offizielle Handlungsempfehlung der zuständigen Landesministerien an die Hand gegeben wird – oder der EuGH auf die noch ausstehende weitere Vorlagefrage des OLG Koblenz zur Vereinbarkeit von landesvergabegesetzlichen Mindestlohnvorschriften mit dem Europarecht (Beschluss vom 19.02.2014, Az. 1 Verg 8/13) alsbald weitere klarstellende Hinweise erteilen wird.