Mit Urteil vom 28.01.2010 (Rs. C-406/08) hatte der EuGH eine britische Regelung für nicht mit Gemeinschaftsrecht vereinbar erklärt, nach der die Einleitung eines Nachprüfungsverfahrens nur zulässig ist, wenn das Verfahren unverzüglich, spätestens jedoch innerhalb von drei Monaten nach dem ersten Eintreten eines Grundes für die Einleitung des Verfahrens eingeleitet wird. Der EuGH bemängelte dabei insbesondere die Unsicherheit der Ausschlussfrist wegen des Begriffes der „Unverzüglichkeit“ mit der Folge, dass die Dauer der Ausschlussfrist in das freie Ermessen des zuständigen Richters (Nachprüfungsorgans) gestellt sei. Im Nachgang zu dieser Entscheidung des EuGH ist in Deutschland eine Diskussion darüber entbrannt, ob hiernach auch die Regelung des § 107 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 GWB als europarechtswidrig einzustufen ist, da diese sich mit der Forderung nach einer „Unverzüglichkeit“ der Rüge gegenüber der Vergabestelle ebenfalls auf einen unbestimmten Rechtsbegriff stützt. Die VK Bund hat sich dabei nunmehr zu Gunsten der Europarechtskonformität der deutschen Regelung positioniert.
VK Bund hält § 107 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 GWB für europarechtlich unbedenklich
Mit Entscheidung vom 05.03.2010 (VK 1-16/10) hat die erste Vergabekammer des Bundes entschieden, dass Nachprüfungsanträge auch vor dem Hintergrund der dargestellten EuGH-Rechtsprechung weiterhin als nach § 107 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 GWB unzulässig behandelt werden müssen, wenn der Bieter die Vergaberechtsverstöße nicht „unverzüglich“ im Sinne der bisherigen Rechtsprechung gerügt habe. Denn anders als die vom EuGH beanstandete britische Vorschrift regele § 107 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 GWB nicht die Ausschlussfrist für das Nachprüfungsverfahren selbst, sondern nur die Anforderungen an die Rügeobliegenheit als Zulässigkeitsvoraussetzung und damit, ob die Zulässigkeitsvoraussetzung vorliege oder nicht. Im Übrigen sei der Begriff der Unverzüglichkeit im deutschen Recht definiert. Unverzüglich hieße hiernach „ohne schuldhaftes Zögern“ im Sinne des § 121 Abs. 1 Satz 1 BGB. Zudem sei der Begriff der Unverzüglichkeit aufgrund einer ausgeprägten Rechtsprechung zu § 107 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 GWB weitergehend konkretisiert worden, so dass es gerade nicht im Ermessen der Nachprüfungsinstanz stehe, ob eine Rüge unverzüglich vorgenommen wurde oder nicht.
BGH-Ansicht fragwürdig
Die Ansicht der VK Bund, dass Europarecht der Anwendung der Rügepräklusion nach § 107 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 GWB nicht entgegenstehe, überrascht. Zum einen trifft es zwar zu, dass sich die unbestimmte Frist im deutschen Verfahrensrecht, anders als bei der britischen Regelung, nicht auf die Einleitung des Nachprüfungsverfahrens selbst, sondern auf die vorgelagerte Rüge bezieht. Dennoch hat aber auch diese Fristenregelung zur Folge, dass der Bieter erst im Nachprüfungsverfahren selbst erfährt, ob sein Rechtsbehelf Aussicht auf Erfolg hat oder aber nach Ansicht des Gerichts bzw. der Vergabekammer bereits als unzulässig abgewiesen werden muss. Aus genau diesem Grund hatte jedoch der EuGH die britische Regelung als europarechtlich nicht zulässig eingeordnet. Des Weiteren ist die Einschätzung der VK Bund, der Begriff der Unverzüglichkeit sei durch die Rechtsprechung ausreichend konkretisiert worden, zumindest fragwürdig. Vielmehr ist die klare und vorhersehbare Bestimmung der Rügefrist für die Bieter angesichts der mittlerweile fast unüberschaubaren Rechtsprechung zur Unverzüglichkeit in der Praxis schwierig. Auch hilft die gesetzliche Definierung der „Unverzüglichkeit“ in § 121 Abs. 1 Satz 1 BGB kaum weiter. Denn die Einschätzung, ab wann von einem „schuldhaften Zögern“ ausgegangen werden muss, obliegt wiederum dem Ermessen des Gerichts. Dabei werden von den einzelnen Vergabekammern Überlegensfristen von einem bis maximal vierzehn Tagen eingeräumt. Von einer Klarheit der deutschen Regelung kann folglich kaum die Rede sein.
Praxishinweise
Aufgrund der dargestellten Problematik ist es fraglich, ob sich die übrigen Vergabekammern bzw. die Oberlandesgerichte der Rechtsprechung der ersten Vergabekammer des Bundes ohne Weiteres anschließen werden. Insbesondere ist es denkbar, dass eine Vergabekammer oder ein Vergabesenat den EuGH im Wege eines Vorabentscheidungsverfahrens ersuchen wird, über die Vereinbarkeit des § 107 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 GWB mit EU-Recht zu entscheiden. Bis zu einem entsprechenden Vorlagebeschluss oder aber der Überarbeitung des GWB durch den Gesetzgeber sollten Bieter jedoch in Anbetracht der jüngsten Rechtsprechung der VK Bund ihre Rügen in jedem Fall weiterhin „unverzüglich“ im Sinne der bisherigen Auslegungspraxis vorbringen, um zu verhindern, dass sie mit ihrer Rüge präkludiert sind. Auftraggebern ist weiterhin zu empfehlen, bereits in die Vergabebekanntmachung und ebenso in den Verdingungsunterlagen eine angemessene, genau bestimmte Rügefrist aufzunehmen.