Nach § 169 Abs. 2 Satz 1 GWB kann die Vergabekammer dem Auftraggeber gestatten, den Zuschlag vorab zu erteilen, wenn unter Berücksichtigung aller möglicherweise geschädigten Interessen sowie des Interesses der Allgemeinheit an einem raschen Abschluss des Vergabeverfahrens die nachteiligen Folgen einer Verzögerung der Vergabe bis zum Abschluss der Nachprüfung die damit verbundenen Vorteile überwiegen. In ihrem Beschluss vom 16.04.2021 (VK B 2-8/21, Leitsätze abrufbar unter folgendem Link) hat sich die VK Berlin im Rahmen der entsprechenden Interessenabwägung insbesondere auch mit der Frage auseinandergesetzt, ob bzw. inwieweit der drohende Verlust von Fördermitteln eine Vorabgestattung des Zuschlags rechtfertigen kann.
Was war passiert?
Der Auftraggeber schrieb einen Bauauftrag im Bereich der Gebäudeautomation an einem Konzerthaus europaweit im offenen Verfahren aus. Unter anderem die spätere Antragstellerin gab ein Angebot ab. Mit Schreiben vom 04.01.2021 teilte der Auftraggeber der Antragstellerin mit, dass ihr Angebot nicht berücksichtigt werden könne und beabsichtigt sei, den Zuschlag auf das Angebot der späteren Beigeladenen zu erteilen.
Mit ihrem Nachprüfungsantrag vom 10.02.2021 machte die Antragstellerin geltend, dass das Angebot der Beigeladenen nicht die ausschreibungsgegenständlichen Anforderungen erfülle und daher auszuschließen sei.
Der Antragsgegner reichte am 07.04.2021 einen Antrag auf Vorabgestattung der Zuschlagserteilung ein. Zur Begründung seines Vorabgestattungsantrags führte er insbesondere aus, dass seine eigenen und die Interessen der Allgemeinheit an einer energetischen Sanierung des Konzerthauses unter Ausschöpfung der gewährten Förderung und Vermeidung zusätzlicher Kosten die Interessen der Antragstellerin überwögen. Diese Gesichtspunkte führte der Antragsgegner näher aus.-Insbesondere trug er vor, dass vorliegend bei einer weiteren Verzögerung der Verlust der Fördermittel in Höhe von bis zu mehreren Millionen Euro drohe und dieser Umstand ein besonders schutzwürdiges Interesse der Allgemeinheit und des Auftraggebers darstelle. So seien Fördermittel für die energetische Sanierung des Konzerthauses bewilligt. Der Projektzeitraum, in dem die Maßnahme durchzuführen, abzuschließen und abzurechnen sei, sei nach dem bereits bewilligten letztmaligen Verlängerungszuwendungsbescheid bis zum 30.04.2023 begrenzt. Dies bedinge, dass mit diesem Datum alle Prüfungsunterlagen für die endgültige Abrechnung der Fördermaßnahme eingereicht sein müssten. Die energetische Sanierung halte einer Prüfung nur stand, wenn der Erfolg der vorgenommenen Maßnahmen durch entsprechende Erfolgsdokumentationen nach Abschluss der Arbeiten nachgewiesen werde. Nach der Auftragsbekanntmachung seien die streitgegenständlichen Leistungen mit dem 01.02.2021 zu beginnen und bis zum 31.10.2022 abzuschließen. Der Gesamtterminplan für die Sanierungsmaßnahme weise nach, dass die Durchführung im Förderzeitraum möglich, jedoch ohne erhebliche Pufferzeiten durchzuführen sei. Der von ihm vorgelegte detaillierte Bauablaufplan kompensiere eine Verzögerung der Beauftragung bis zu einem spätesten Auftragstermin am 01.04.2021, der bereits verstrichen sei.
Der Antrag auf Vorabgestattung der Zuschlagserteilung blieb jedoch: Ohne Erfolg!
Entscheidung der VK Berlin: Keine Vorabgestattung der Zuschlagserteilung trotz drohendem Fördermittelverlust!
Zunächst skizziert die VK Berlin den für die Frage der Vorabgestattung des Zuschlags maßgeblichen Prüfungsmaßstab. Gemäß § 169 Abs. 2 Satz 1 GWB könne die Vergabekammer dem Auftraggeber gestatten, den Zuschlag nach Ablauf von zwei Wochen seit Bekanntgabe der entsprechenden Entscheidung zu erteilen, wenn unter Berücksichtigung aller möglicherweise geschädigten Interessen sowie des Interesses der Allgemeinheit an einem raschen Abschluss des Vergabeverfahrens die nachteiligen Folgen einer Verzögerung der Vergabe bis zum Abschluss der Nachprüfung die damit verbundenen Vorteile überwögen. Die Gestattung komme dementsprechend nur bei einem Überwiegen der verzögerungsbedingten Nachteile gegenüber den mit der Verzögerung einhergehenden Vorteilen in Betracht. Nach § 169 Abs. 2 Satz 2 und Satz 3 GWB seien bei der Abwägung das Interesse der Allgemeinheit an einer wirtschaftlichen Erfüllung der Aufgaben des Auftraggebers einerseits und die allgemeinen Aussichten des Antragstellers im Vergabeverfahren andererseits zu berücksichtigen. Dabei sei, wie die VK Berlin hervorhebt, zu beachten, dass die Gestattung des Zuschlags vor Entscheidung des Hauptsacheverfahrens dazu führe, dass der Antragstellerin des Nachprüfungsverfahrens der Primärrechtschutz irreversibel genommen und sie auf den Sekundärrechtsschutz verwiesen werde. Dieser schwerwiegende Eingriff führe dazu, dass die Gestattung des Zuschlags grundsätzlich nur in besonderen Ausnahmefällen erfolgen dürfe, wenn ein dringendes Interesse bestehe, welches deutlich das Interesse an einer ordnungsgemäßen Durchführung des Nachprüfungsverfahrens übersteige.
Unter Zugrundelegung dieses Maßstabs lägen, so die VK Berlin, die Voraussetzungen für die sofortige Gestattung des Zuschlags im gegenständlichen Fall nicht vor. Denn das Vorbringen des Auftraggebers zeige schon kein überwiegendes besonderes Beschleunigungsinteresse auf.
Zunächst sei die bloße Verzögerung der Zuschlagserteilung durch das Nachprüfungsverfahren jenem immanent und könne ein besonderes Beschleunigungsinteresse von vornherein nicht begründen. Dies gelte auch für die Verzögerung des Nachprüfungsverfahrens durch die Verlängerung der Entscheidungsfrist der Vergabekammer nach § 167 Abs. 1 GWB. Diese könne ohne das Hinzutreten weiterer Umstände ein besonderes Beschleunigungsinteresse ebenfalls nicht begründen.
Zwar habe der Auftraggeber dargelegt, dass er mit finanziellen Mehraufwänden durch einen provisorischen Handbetrieb, einen denkbaren Baustopp und etwaigen Mehrverbrauch von Energie konfrontiert sei. Unabhängig von der Frage, ob die Kammer dies – auch angesichts der rechtserheblichen Einwände der Antragstellerin – für hinreichend glaubhaft gemacht halte, trage jedoch grundsätzlich der öffentliche Auftraggeber das Vergabeverfahrensrisiko. Er habe die für ein Beschaffungsvorhaben notwendigen Realisierungsvoraussetzungen zu schaffen und die für ein Vergabeverfahren mit anschließendem Rechtsbehelfsverfahren notwendigen Zeiträume zu berücksichtigen. Die finanziellen Folgen eines verzögerten Zuschlags habe er deshalb prinzipiell ebenfalls zu tragen. Daher rechtfertigten drohende Mehrkosten in der Regel keine Vorabgestattung des Zuschlags. Dies gelte insbesondere dann, wenn sie sich – wie hier – im noch überschaubaren Rahmen hielten und zudem offen sei, ob sie nicht bei entsprechender Änderungsantragstellung – zumindest teilweise – sogar förderfähig seien und sich damit schon nicht zu Lasten des Haushalts des Auftraggebers auswirkten.
Insbesondere könne aber auch, so die VK Berlin weiter, der vom Auftraggeber angeführte drohende Fördermittelverlust ein besonders dringliches Interesse an einer vorzeitigen Zuschlagserteilung nicht begründen, wenngleich die im Raum stehende Summe insoweit wohl durchaus erheblich sei. Es sei angesichts des geplanten Abschlusses der Baumaßnahme im Oktober 2022 für die Kammer allerdings schon nicht ohne Weiteres ersichtlich, dass es dem Auftraggeber auch bei einer noch geringfügigen Verzögerung nicht möglich sein sollte, den vom Zuwendungsbescheid vorgesehenen Projektzeitraum bis Ende April 2023 einzuhalten. Abgesehen von dem danach vorhandenen Puffer für die Abrechnungs- und Prüfungsphase des Projekts, der gegebenenfalls zugunsten von Bauverzögerungen noch abgeschmolzen werden könne, habe die Antragstellerin zutreffend darauf hingewiesen, dass sich die Berücksichtigung des laufenden Spiel- und Nutzbetriebs beziehungsweise von Veranstaltungen im Konzerthaus angesichts der derzeitigen pandemiebedingten Beschränkungen nicht nachvollziehen lasse.
Auch habe der Auftraggeber zwar vorgetragen, der Zuwendungsbescheid sei mit dem Änderungsbescheid vom 19.07.2020 letztmalig geändert worden. Er habe aber nicht vorgebracht, eine neuerliche Änderung sei ausgeschlossen. Dafür sei auch nichts ersichtlich. Sei eine Änderung des Zuwendungsbescheids mit einem gegebenenfalls verlängerten Projektzeitraum und einer unter Umständen um verzögerungsbedingte Mehrkosten erhöhten Förderung aber nicht ausgeschlossen, sondern sei der Auftraggeber seiner – auch haushalterischen / kaufmännischen – Obliegenheit, für eine Anpassung des Zuwendungsbescheids durch einen entsprechenden Änderungsantrag zu sorgen, nicht nachgekommen, so könne aus dem daher möglicherweise drohenden Verlust der Förderung kein den Rechtsschutz der Antragstellerin beschneidendes dringliches Interesse für eine vorzeitige Zuschlagsgestattung abgeleitet werden.
Seien, so das Fazit der VK Berlin, somit schon keine konkreten und besonderen verzögerungsbedingten Nachteile dargetan, die ein besonderes Eilinteresse begründeten, komme es auf die Erfolgsaussichten des Nachprüfungsantrags nicht mehr an.
Fazit und Praxishinweise
Aus der Entscheidung der VK Berlin folgt, dass der drohende Verlust von Fördermitteln bei weiterer Verzögerung durch das Andauern des Nachprüfungsverfahrens grundsätzlich nicht geeignet ist, eine Vorabgestattung der Zuschlagserteilung im Sinne von § 169 Abs. 2 Satz 1 GWB zu rechtfertigen. Insbesondere betont die VK Berlin in ihrem Beschluss die Obliegenheit des Auftraggebers, sich frühzeitig um eine Anpassung des Förderbescheids durch einen entsprechenden Änderungsantrag zu bemühen. Die Entscheidung der VK Berlin darf aber auch nicht dahingehend missverstanden werden, dass der drohende Verlust von Fördermitteln niemals zu einer Vorabgestattung des Zuschlags führen kann. So ist es, sofern der Auftraggeber insbesondere den unweigerlichen Verlust der Fördermittel bei weiterer Zeitverzögerung in jeder Handlungsvariante überzeugend darlegen kann, gerade auch bei Hinzutreten sonstiger Umstände (z. B. mehrfache Verlängerung der Entscheidungsfrist nach § 167 GWB, vorangegangene Nachprüfungsverfahren etc.) durchaus denkbar, dass die Waage bei der Interessenabwägung in Richtung Auftraggeber kippt.
Nichtsdestotrotz führt die Entscheidung der VK Berlin nochmals vor Augen, dass Auftraggeber bei Vergabeverfahren – nicht zuletzt bei geförderten Vorhaben – so früh wie möglich mit der Planung und Durchführung beginnen und dabei so viel zeitlichen Puffer wie möglich „mitnehmen“ sollten.
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