Im April sind zwei neue Entscheidungen der Widerspruchskammer der Europäischen Agentur für chemische Stoffe (im Folgenden „ECHA“) über die Auslegung der europäischen Verordnung 1907/2006 zur Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe (im Folgenden „REACH“) ergangen (zum Rechtschutz im Rahmen von REACH vergleiche unseren ausführlichen Beitrag vom 29.07.2010). Beide Entscheidungen setzen sich mit dem rechtlichen Rahmen für Dossierbewertungen registrierter Stoffe durch die ECHA auseinander. Anlass beider Widerspruchsverfahren waren zusätzliche Informationsforderungen der ECHA zur Stoffidentifizierung.
Widerspruchsentscheidung zur fehlenden Kompetenz der ECHA, eine Registrierungsstrategie der Unternehmen festzulegen
Die Entscheidung vom 02.04.2012 (PPH UTEX) betrifft Fragen der Stoffidentität im Rahmen der Dossierbewertung und der Rolle der ECHA bei der Festlegung der Registrierungsstrategie einzelner Unternehmen.
In der Leitlinie zur Identifizierung von Stoffen der ECHA (Guidance for the identification and naming of substances under REACH and CLP, „Leitlinie“) wird für sogenannte „UVCB-Stoffe“ (substances of unknown or variable composition, complex reaction products or biological materials) gefordert, dass zur näheren Beschreibung eines UVCB-Stoffes der Herstellungsprozess dargelegt werden soll. In der streitgegenständlichen Registrierung wurden zwei Herstellungsprozesse durch den Registranten beschrieben. Die ECHA ging auf der Grundlage der Leitlinie davon aus, dass signifikante Änderungen des Herstellungsprozesses zu unterschiedlichen Stoffen führen. Deshalb könne nur ein Herstellungsprozess in der Registrierung genannt werden, da sich eine Registrierung immer nur auf einen Stoff beziehen dürfe. Sie forderte den Registranten daher auf, die Registrierung auf den Stoff zu beschränken, der durch den im Registrierungsdossier zuerst erwähnten Herstellungsprozess erzeugt werde.
Die Widerspruchskammer stellte zunächst klar, inwiefern die durch den Registranten beschriebenen Herstellungsprozesse einerseits zu einem registrierungspflichtigen Stoff und andererseits zu einem Gemisch (mit mehreren regierungspflichtigen Stoffen) führen. Sie betonte, dass ein Registrierungsdossier sich jeweils nur auf einen Stoff beziehen könne. Allerdings obliege es allein dem Registranten zu entscheiden, für welchen Stoff er eine Registrierung vornehme. Sollte ein Hersteller oder Importeur seinen Registrierungspflichten nicht nachkommen, sei es allein Aufgabe der mitgliedstaatlichen Behörden, dies gegebenenfalls zu ahnden. Demgegenüber sei es nicht Aufgabe der ECHA, einseitig zu bestimmen, welche Stoffe von einzelnen Unternehmen zu registrieren seien. Dies gelte selbst dann, wenn ein Registrierungsdossier zwei unterschiedliche Stoffe enthalte.
Es obliege stets nur dem einzelnen Unternehmen seine Registrierungsstrategie festzulegen, indem es entscheide, für welchen Stoff es eine Registrierung vornehme. Die ECHA dürfe hingegen in ihrer Entscheidung keine Vermutungen darüber anstellen, für welchen Stoff ein Registrierungsdossier gelte, falls dieses Informationen über unterschiedliche Stoffe enthalte. Vielmehr müsse sie beim Registranten nachfragen, auf welchen Stoff sich seine Registrierung beziehen solle. Dabei dürfe sie die Registranten bei ihrer Regierungsstrategie (also der Auswahl der Stoffe, für die Registrierungen eingereicht werden) nur unterstützen und beraten, aber nicht einseitige Entscheidungen diesbezüglich treffen.
Demzufolge hob die Widerspruchskammer die Entscheidung der ECHA wegen Kompetenzüberschreitung auf und verwies den Fall zurück an die ECHA, damit diese das aktuelle Registrierungsdossier neu überprüfen kann. Gleichzeitig regte sie an, dass der Registrant seine Registrierungsstrategie überdenken und die Erfüllung seiner Registrierungspflichten überprüfen solle.
Widerspruchsentscheidung zu Zusatzstoffen, Vertrauensschutz und Verhältnismäßigkeitsprinzip
Gegenstand des Widerspruchsverfahrens A-001-2013 (Infineum) war die Anordnung der ECHA, innerhalb von drei Monaten nähere Informationen zu einem Schmieröl zu geben, das dem registrierten Stoff zugeführt wurde. Uneinigkeit bestand insbesondere darüber, ob es sich bei dem Schmieröl um einen Zusatzstoff zur Wahrung der Stabilität im Sinne von Art. 3 Nr. 1 REACH handelt und inwieweit nähere Angaben zu den Bestandteilen des Schmieröls gemacht werden mussten. Hierzu fand im Vorfeld der Entscheidung eine Telefonkonferenz zwischen dem Widerspruchsführer und der ECHA statt, indem die ECHA andeutete, ihre Entscheidung abzuändern, was letztlich jedoch nicht erfolgte. Der Widerspruch hatte keinen Erfolg.
Zu enge Interpretation des Begriffs der Zusatzstoffe durch ECHA
Die Widerspruchskammer stellte zunächst fest, dass entgegen der Ansicht der ECHA Zusatzstoffe im Sinne von Art. 3 Nr. 1 REACH neben der chemischen auch der physikalischen Stabilität dienen können. Das Schmieröl sei aber dennoch kein Zusatzstoff im Sinne von Art. 3 Nr. 1 REACH, weil es so grundlegend für dessen Funktionalität sei, dass nicht mehr von einem Zusatzstoff die Rede sein könne, auch wenn es – unter anderem – einen stabilisierenden Effekt habe. Dass die ECHA in ihrer Entscheidung den Begriff des Zusatzstoffes zu eng interpretiert habe, sei daher vorliegend letztlich irrelevant. Solange die ECHA ihre Entscheidung auf verschiedene Begründungen (pillars of reasoning, wörtlich: „Begründungssäulen“) stütze, welche die Entscheidung jeweils auch alleine tragen könnten, so sei eine Aufhebung der Entscheidung nach der diesbezüglichen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nur dann erforderlich, wenn sich alle Begründungsansätze als unrichtig erweisen würden.
Hinsichtlich der Forderung zusätzlicher Informationen zu den Bestandteilen des Schmieröls wandte der Widerspruchsführer ein, dass diese Forderung gegen die allgemeinen Rechtsgrundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes verstoße und zudem unverhältnismäßig sei.
Auslegungsbedürfigkeit der Leitlinien der ECHA
Bezüglich der Aspekte der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes berief sich der Widerspruchsführer auf die Leitlinie zur Identifizierung von Stoffen. Dort sei nur geregelt, dass bei UVCB-Stoffen alle bekannten Bestandteile und alle Bestandteile, die in einer Konzentration von ≥ 10 % vorhanden seien, mindestens durch einen IUPAC-Namen in Englisch und möglichst durch eine CAS-Nummer anzugeben seien.
Die Widerspruchskammer stellte zunächst unter Verweis auf ihre Entscheidung vom 10.10.2010, Az. A-001-2010, Rn. 57ff. fest, dass die Leitlinien der ECHA zwar grundsätzlich Verhaltensregeln aufstellen, auf die sich die Registranten aus Vertrauensschutzgesichtspunkten berufen können. Die Leitlinien seien jedoch auslegungsbedürftig. Ihre Auslegung müsse im Einklang mit den Zielen und Erfordernissen von REACH erfolgen. Vorliegend könne die in der Leitlinie genannte 10%-Hürde nicht als absolute Grenze verstanden werden, weshalb auch darüber hinaus Angaben gemacht werden müssten, sofern möglich. Dass die Möglichkeit bestehe, im vorliegenden Fall nähere Angaben zu machen, ergebe sich auch daraus, dass ein Co-Registrant entsprechende Informationen an die ECHA weitergegeben habe. ECHA sei daher vorliegend nicht von den Vorgaben der Leitlinie abgewichen.
Kein schutzwürdiges Vertrauen wegen Äußerungen in der Telefonkonferenz
Auch aufgrund Äußerungen der ECHA in einer Telefonkonferenz konnte der Widerspruchsführer kein schutzwürdiges Vertrauen entwickeln. Bereits im Vorfeld sei klargestellt worden, dass die Telefonkonferenz ausschließlich der Diskussion wissenschaftlicher Aspekte diente und weder ECHA noch der Widerspruchsführer an ihren Inhalt gebunden seien und dass alle Eingaben an ECHA im Nachgang formell eingereicht werden mussten. Ein Verstoß gegen die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes lag nach Ansicht der Widerspruchskammer daher nicht vor.
Kein Verstoß gegen das Prinzip der Verhältnismäßigkeit
Ebenso kann die Nachforderung der Informationen nach Ansicht der Widerspruchskammer nicht als unverhältnismäßig angesehen werden, auch nicht vor dem Hintergrund der insoweit durch die ECHA gesetzten Dreimonatsfrist. Diese sei angemessen, da zur Bestimmung der Bestandteile des Schmieröls Standardtestmethoden herangezogen werden könnten, die Beweislast bezüglich der Ungefährlichkeit des Stoffes beim Registranten liege und der Widerspruchsführer die ursprüngliche Zweimonatsfrist im Entscheidungsentwurf der ECHA auch nicht in Frage gestellt habe, weshalb er die längere Frist von drei Monaten in der endgültigen Entscheidung nicht mehr angreifen könne. Ein Indiz gegen die Unverhältnismäßigkeit der Frist sei zudem, dass ein Co-Registrant die erforderlichen Informationen innerhalb der Zweimonatsfrist ohne Probleme erbracht habe.
Fazit
Mit zunehmender Anzahl von Entscheidungen zeigt sich, dass entgegen geäußerter Bedenken die Widerspruchskammer durchaus bereit ist, korrigierend einzugreifen und Entscheidungen der ECHA aufzuheben. Bei konsequenter Verfolgung kann das Widerspruchsverfahren daher ein hilfreiches Rechtsschutzinstrument für den Registranten darstellen.
Neben den fallspezifischen Erwägungen setzen sich beide Entscheidungen mit allgemeinen Verfahrensgrundsätzen bei der Registrierung von Stoffen auseinander, die über den Einzelfall hinaus für Registranten von Bedeutung sind. Zu begrüßen ist, dass in der Entscheidung PPH UTEX die Grenzen der Kompetenzen der ECHA klargestellt werden. Diese darf nicht unabhängig vom Registranten und dessen Regierungsstrategie entscheiden, auf welchen Stoff sich die Registrierung letztlich beziehen soll.
Die Entscheidung Infineum illustriert, dass Registranten möglichst früh von ihrem Recht auf Gehör Gebrauch machen und mit der ECHA ausführlich die jeweiligen Problempunkte besprechen sollten. Dabei gilt es jedoch zu berücksichtigen, dass nach Ansicht der Widerspruchskammer sowohl die veröffentlichten Leitlinien aufgrund ihrer meist offenen Formulierung auslegungsbedürftig sind und deshalb nicht immer schutzwürdiges Vertrauen im Einzelfall erzeugen können. Auch Äußerungen der ECHA in einer Telefonkonferenz mit dem Registranten sind angesichts der von der ECHA genutzten disclaimer nur in sehr eingeschränktem Maße geeignet, ein schutzwürdiges Vertrauen beim Registranten hervorzurufen.
Unabdingbar ist insbesondere, Einwendungen bereits bei Übermittlung des Entscheidungsentwurfes umfassend gegenüber der ECHA darzulegen, um diese auch noch in einem möglichen späteren Widerspruchsverfahren geltend machen zu können. So hätte man im Fall Infineum eine Fristverlängerung für das Nachreichen der Informationen in einem früheren Verfahrensstadium möglicherweise noch erreichen können.