EuGH stellt bisherige Konturierung des Inhouse-Tatbestandes auf den Kopf
Bislang war man nach der sogenannten „Teckal“-Entscheidung des Gerichtshofs unter Vergaberechtlern mehrheitlich davon ausgegangen, dass auch die Beauftragung einer gemischtwirtschaftlichen Gesellschaft unter Beteiligung eines privaten Gesellschafters ein sogenanntes vergaberechtsfreies Inhouse-Geschäft darstellen könne. Dort hatte der Gerichtshof die Freistellung vom Anwendungsbereich des Vergaberechts für Fälle akzeptiert, in denen ein öffentlicher Auftraggeber über die beauftragte Gesellschaft eine Kontrolle wie über eine eigene Dienststelle ausübt und die Gesellschaft zugleich ihre Leistungen „im Wesentlichen“ für diesen Auftraggeber erbringt. In dem Bemühen, diesen abstrakten „Inhouse-Tatbestand“ zu konkretisieren, hatte sich im deutschen Vergaberecht insoweit die Auffassung durchgesetzt, dass jedenfalls bei einer entsprechenden Ausgestaltung der beauftragten Gesellschaft durch den Gesellschaftsvertrag und in Beachtung der gesellschaftsrechtlichen Vorgaben für Minderheitsgesellschafter auch die Beauftragung einer gemischtwirtschaftlichen Gesellschaft ohne Ausschreibung zulässig sei. Selbst die Generalanwältin hatte in ihren Schlussanträgen vom 23.09.2004 vertreten, dass die Hereinnahme privater Unternehmen in die beauftragte Gesellschaft für die Annahme eines „Inhouse-Geschäftes“ grundsätzlich nicht schade. Dem ist der Gerichtshof nunmehr in unmissverständlicher Klarheit entgegengetreten.
EuGH: Vergaberecht will unverfälschten Wettbewerb – möglichst ausnahmslos
Zur Begründung verweisen die Europarichter darauf, dass das europäische Vergaberecht den freien Dienstleistungsverkehr und einen unverfälschten Wettbewerb in allen Mitgliedsstaaten verwirklichen wolle. Dies schließe die Verpflichtung für jeden öffentlichen Auftraggeber ein, die einschlägigen Gemeinschaftsvorschriften anzuwenden, wenn die darin vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt seien. Ausnahmen von dieser Verpflichtung sind nach Auffassung des Gerichtshofs eng auszulegen. Nach wie vor könne ein öffentlicher Auftraggeber jedoch seine im allgemeinen Interesse liegenden Aufgaben mit seinen eigenen administrativen, technischen und sonstigen Mitteln erfüllen, ohne gezwungen zu sein, sich an externe Einrichtungen zu wenden, die nicht zu seinen Dienststellen gehörten. In einem derartigen Fall – so der EuGH – liege schon kein entgeltlicher Vertrag mit einer rechtlich vom Auftraggeber zu unterscheidenden Einrichtung vor – mit der Folge, dass das Vergaberecht außen vor bleibe. Beauftragt die öffentliche Hand jedoch eine rechtlich selbständige Einrichtung, an der ein privates Unternehmen beteiligt ist, schließt das – so der Gerichtshof wörtlich – auf jeden Fall aus, dass der öffentliche Auftraggeber über diese Gesellschaft eine ähnliche Kontrolle ausübt wie über seine eigene Dienststelle, so dass das Vergaberecht anzuwenden ist. Der Gerichtshof betont insoweit den Unterschied zwischen der Beziehung eines öffentlichen Auftraggebers zu seinen Dienststellen und derjenigen zu einem privaten Unternehmen. Erstere bestimmten Überlegungen und Erfordernisse , die mit der Verfolgung von im öffentlichen Interesse liegenden Zielen zusammenhingen, die Anlage von privatem Kapital in einem Unternehmen beruhe dagegen auf Überlegungen, die mit privaten Interessen zusammenhingen und daher andersartige Ziele verfolgten. Die Vergabe eines öffentlichen Auftrages an ein gemischtwirtschaftliches Unternehmen ohne Ausschreibung würde nach Auffassung des EuGH zudem das Ziel eines freien unverfälschten Wettbewerbs und den in der Dienstleistungsrichtlinie genannten Grundsatz der Gleichbehandlung der Interessenten beieinträchtigen, da ein solches Verfahren einem am Kapital dieses Unternehmens beteiligten privaten Unternehmen einen Vorteil gegenüber seinen Konkurrenten verschaffen würde.
EuGH verwirklicht konsequent „praktische Wirksamkeit“ des Vergaberechts
Der Gerichtshof hat im Tenor der Entscheidung und mehr noch in ihren Gründen damit erneut unter Beweis gestellt, dass er die Herrschaft des Vergaberechts möglichst ausnahmslos verwirklichen will und vergaberechtliche Freiräume – wenn überhaupt – nur in absoluten Ausnahmefällen akzeptiert. Eine Haltung, die auch die übrigen Antworten des Gerichtshofs auf die Vorlagefragen des OLG Naumburg beweisen. Im Kern ging es hier darum, wann Wettbewerbern Rechtsschutz bei „formlosen“ Beschaffungen ohne Ausschreibung – sogenannten „De-facto-Vergaben“ - zu gewähren ist. Der Gerichtshof stellt insoweit klar, dass der Begriff der überprüfbaren „Entscheidungen der Vergabebehörden“ im europäischen Vergaberecht angesichts der Ziele, der Systematik und des Wortlauts der Dienstleistungsrichtlinie und um die praktische Wirksamkeit dieser Richtlinie zu wahren, weit auszulegen ist. Hiernach stelle jede Maßnahme eines öffentlichen Auftraggebers, die im Zusammenhang mit einem öffentlichen Dienstleistungsauftrag getroffen werde, eine nachprüfbare Entscheidung im Sinne der Dienstleistungsrichtlinie dar und zwar unabhängig davon, ob diese Maßnahme außerhalb eines förmlichen Vergabeverfahrens oder im Rahmen eines solchen Verfahrens getroffen worden sei. Nicht nachprüfbar seien allein rein vorbereitende und interne Maßnahmen des öffentlichen Auftraggebers, wie etwa Marktvorstudien. Die Entscheidung des öffentlichen Auftraggebers, ein förmliches Vergabeverfahren nicht einzuleiten bzw. darüber, ob ein öffentlicher Auftrag in den Anwendungsbereich des Vergaberechts falle, müssten dagegen nachgeprüft werden können. Ansonsten drohe – so der Gerichtshof – ein ganz beträchtlicher Verstoß eines öffentlichen Auftraggebers gegen das Gemeinschaftsrecht und der in der Dienstleistungsrichtlinie angestrebte wirksame und rasche gerichtliche Rechtsschutz würde erheblich eingeschränkt. Es sei vor diesem Hintergrund ebenso wenig erlaubt, die Möglichkeit der rechtlichen Überprüfung einer Auftragsvergabe davon abhängig zu machen, dass das Vergabeverfahren formal ein bestimmtes Stadium erreicht habe.
Jede nicht rein interne oder vorbereitende Willensäußerung zur Auftragsvergabe kann überprüft werden
Nach Ansicht des Gerichtshofs ist damit letztlich jede Willensäußerung des öffentlichen Auftraggebers im Zusammenhang mit einem Auftrag, die auf irgendeine Weise den interessierten Personen zur Kenntnis gelangt ist, nachprüfbar, wenn sie über das Stadium einer Vorbereitungshandlungen hinausgegangen ist und Rechtswirkungen entfalten kann. Die Aufnahme konkreter Vertragsverhandlungen mit einem Interessenten stelle eine solche Willensäußerung dar. Mit dieser Auffassung folgt der Gerichtshof den Schlussanträgen der Generalanwältin und bewegt sich zudem ganz auf der Linie der bisherigen nationalen Rechtsprechung. Auch deutsche Gerichte gingen bislang von einem „materiellen“ Verständnis des Vergaberechts aus, dessen Überprüfbarkeit eben nicht ein formelles Vergabeverfahren voraussetzt. Wenn der Auftraggeber erkennbar organisatorische Schritte zur Deckung eines Bedarfs vornimmt, die die Schwelle bloßer Markterkundung und Marktbeobachtung deutlich überschreiten, unterlagen hiernach schon bislang „De-facto-Vergaben“ dem Nachprüfungsverfahren. Im deutschen Recht war man allerdings bislang davon ausgegangen, berechtigt, ein Nachprüfungsverfahren durchzuführen, sei nur derjenige, der sich „offiziell“ um den Auftrag beworben habe. Auch dies sieht der EuGH offensichtlich anders: Jeder, der – so der EuGH wörtlich - ein Interesse an dem fraglichen Auftrag hat oder hatte, und dem durch einen behaupteten Rechtsverstoß ein Schaden entstanden ist bzw. zu entstehen droht, steht das Nachprüfungsverfahren von dem Zeitpunkt an zur Verfügung, zu dem der Wille des öffentlichen Auftraggebers, der Rechtswirkungen entfalten kann, geäußert wird. Ausdrücklich hält der Gerichtshof fest, dass insoweit eine formale Stellung als Bieter oder Bewerber nicht erforderlich ist.
EuGH-Entscheidung hat weitreichende Folgen
Das EuGH-Urteil gleicht einem Paukenschlag. Für die öffentlichen Auftraggeber bedeutet es das Ende der – bislang zahlreich praktizierten – „Inhouse-Geschäfte“, als (letzte) Möglichkeit, private Unternehmen ohne Ausschreibung und Durchführung eines förmlichen Vergabeverfahrens mit öffentlichen Aufträgen zu versehen. Angesichts der in den Ausführungen des Gerichtshofs eindeutig auszumachenden Tendenz, den Geltungsanspruch des Vergaberechts umfassend durchzusetzen, sollten öffentliche Auftraggeber zukünftig – noch mehr als bisher – Know how und Kapital in die zielführende Gestaltung von Ausschreibungen und Vergabeunterlagen investieren, als nach – ggf. teuren – Möglichkeiten zu suchen oder suchen zu lassen, der Anwendung des Vergaberechts zu entfliehen. Für private Unternehmen, die sich im Wettbewerb um öffentliche Aufträge befinden, zeigt die Entscheidung, dass es sich lohnt, „De-facto-Vergaben“ gerichtlich anzugreifen. Dies gilt im Übrigen angesichts der sehr weitgehenden Ausführungen des Gerichtshofs auch für die in der Vergangenheit – zumindest ab Geltung der neuen Vergabeverordnung (VgV) – geschlossenen Altverträge. Denn die eingeschränkte Anwendung der Nichtigkeitsfolge des § 13 Satz 6 VgV bei unterlassener Ausschreibung durch die deutschen Vergabesenate dürfte nach der Entscheidung des EuGH europarechtlich kaum Bestand haben. Übrigens ebenso wenig wie die Bestrebungen der Bundesregierung, kommunale Kooperationen und andere (vorgeblich) „innerstaatliche“ Maßnahmen im Zusammenhang mit Auftragsvergaben aus dem Vergaberecht herauszuhalten: Der EuGH hat gesprochen.