In dem zugrundeliegenden Sachverhalt schrieb die Vergabestelle den Neubau einer Bundesstraße europaweit im Offenen Verfahren aus. In der Folgezeit teilte sie den beteiligten Unternehmen mit, dass sie den Zuschlag auf das Angebot des erstplazierten Bieters zu erteilen beabsichtigte. Vor der Vergabekammer rügte die bei der Submission zweitplazierte Antragstellerin, dass das Angebot der Beigeladenen unvollständig und deshalb von der Wertung auszuschließen sei. Der in den Verdingungsunterlagen verbindlich geforderte Bauzeitenplan habe dem Angebot nicht beigelegen.
Unvollständiges Angebot günstige Tatsache für Antragsteller?
Ob der Bauzeitenplan dem Angebot der Beigeladenen tatsächlich beigefügt war, konnte nicht geklärt werden. Die Vergabekammer hielt das Angebot der Beigeladenen daher für unvollständig und nicht wertbar. Die hiergegen eingelegte Sofortige Beschwerde der Beigeladenen hatte Erfolg. Das OLG Karlsruhe vertritt in dem zitierten Beschluss die Auffassung, dass die nichtaufgeklärte (Un-)Vollständigkeit des Angebots der Beigeladenen zu Lasten der Antragstellerin gehe. Die Unvollständigkeit des Angebotes sei eine für die Antragstellerin günstige Tatsache, für die sie darlegungs- und beweispflichtig sei. Weil das Fehlen des Bauzeitenplans im Angebot der Beigeladenen bei Angebotsabgabe nach der Überzeugung des Karlsruher Vergabesenats nicht feststand, müsse deren Angebot gewertet werden.
Bieterfeindliche Rechtsprechung
Die Entscheidung des OLG Karlsruhe legt Bietern im Vergabeverfahren erhebliche Beweislasten auf, wenn sie vor der Vergabekammer die Unvollständigkeit eines Konkurrenzangebots rügen. Bieter müssen dann nicht nur die Vollständigkeit des eigenen Angebots beweisen, sondern auch die Unvollständigkeit des vermeintlich wirtschaftlichsten Angebots. Diesen Beweis wird ein Bieter kaum führen können, sollte die Unvollständigkeit des Konkurrenzangebots nicht in der Vergabeakte
– etwa im Vergabevermerk – dokumentiert sein. Die Karlsruher Entscheidung liegt auf einer Linie mit einem Beschluss des OLG Düsseldorf vom 19.11.2003 (VII-Verg 47/03). Dort hatte der Düsseldorfer Vergabesenat festgestellt, dass der jeweilige Bieter die Darlegungs- und Beweislast dafür trägt, dass er ein vollständiges Angebot eingereicht hat. Diese starre Beweisregel hat das OLG Düsseldorf selbst dann angenommen, wenn in dem selbstgefertigten Angebotsduplikat, das bei dem betreffenden Bieter verblieben war, die angeblich in dem Angebot fehlenden Eignungsnachweise vorhanden waren und zudem von einem Zeugen bekundet wurde, dass er sich im Zusammenhang mit der Unterzeichnung des Angebots üblicherweise auch davon überzeuge, dass den Angebotsunterlagen die erforderlichen Nachweise und Belege beigefügt seien. Beide Entscheidungen müssen für sich genommen als bieterfeindlich bezeichnet werden. Sie können zudem zu einer widersprüchlichen Verteilung der Darlegungs- und Beweislast führen, so dass die weitere Entwicklung insoweit letztlich abgewartet werden muss.