Immer wieder beschäftigt die Frage der Rügepräklusion die Vergabenachprüfungsinstanzen. Für die Beurteilung, ob eine Rüge rechtzeitig erhoben wurde, kommt es dabei maßgeblich auf das die Rügeobliegenheit auslösende Ereignis an. Zuletzt hat sich das OLG Jena in seinem Beschluss vom 07.05.2024 (Verg 3/24) mit der Frage beschäftigt, ob bereits die Anhörung im Zusammenhang mit einem beabsichtigten Ausschluss des Bieters oder erst dessen Ausschluss die Rügeobliegenheit des betroffenen Bieters auslöst.
Der Auftraggeber schrieb Winterdienst und Störungsbeseitigung auf Bundes- und Landstraßen in einem Landkreis im Rahmen eines offenen Verfahrens europaweit aus.
Unter anderem der spätere Antragsteller reichte fristgerecht ein Angebot ein.
Mit Anhörungsschreiben vom 31.08.2023 teilte der Auftraggeber dem Antragsteller unter Darlegung der einzelnen Gründe mit, dass beabsichtigt sei, ihn nach § 124 Abs. 1 Nr. 8 Var. 1 GWB wegen einer schwerwiegenden Täuschung von der Teilnahme am Vergabeverfahren auszuschließen. Dem Antragsteller wurde zugleich bis zum 19.09.2023 Gelegenheit gegeben, zu seinem beabsichtigten Ausschluss Stellung zu nehmen.
Von dieser Gelegenheit machte der Antragsteller keinen Gebrauch. Mit Schreiben vom 26.09.2023 schloss der Auftraggeber den Antragsteller von der Teilnahme am Vergabeverfahren und sein Angebot von der Wertung aus. Zur Begründung führte der Auftraggeber aus, der Ausschluss erfolge gemäß § 42 Abs. 1 VgV i. V. m. § 124 Abs. 1 Nr. 8 Var. 1 GWB wegen einer schwerwiegenden Täuschung in einem anderen Vergabeverfahren.
Mit dem Auftraggeber am 29.09.2023 zugegangen Schreiben vom gleichen Tage rügte der Antragsteller den Ausschluss und führte näher aus, dass die Voraussetzungen für den Ausschluss wegen einer schwerwiegenden Täuschung nicht gegeben seien. Mit Schreiben vom 06.10.2023 half der Auftraggeber der Rüge nicht ab.
Fristgerecht stellte der Antragsteller daraufhin einen Vergabenachprüfungsantrag bei der VK Thüringen und führte zur Begründung aus, dass die Voraussetzungen für den Ausschluss nicht vorlägen. Mit Beschluss vom 21.02.2024 verwarf die VK Thüringen den Nachprüfungsantrag als unzulässig. Der Antragsteller sei mit seinem Rügevorbringen gemäß § 160 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 GWB präkludiert. Denn der Antragsteller habe den seinem Rügeschreiben vom 28.09.2023 zugrunde liegenden Verstoß gegen Rechtsvorschriften spätestens am 31.08.2023 erkannt, aber die Frist zur Stellungnahme verstreichen lassen und erst mit Schreiben vom 28.09.2023 seine Rüge erhoben.
Gegen diesen Beschluss legte der Antragsteller fristgerecht sofortige Beschwerde beim OLG Jena ein.
Mit Erfolg!
Die zulässige sofortige Beschwerde des Antragstellers sei, so das OLG Jena, begründet. Der Nachprüfungsantrag des Antragstellers sei nicht gemäß § 160 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 GWB unzulässig.
Nach § 160 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 GWB ist der Nachprüfungsantrag unzulässig, soweit der Antragsteller den geltend gemachten Verstoß gegen Vergabevorschriften vor der Einreichung des Antrages erkannt und gegenüber dem Auftraggeber nicht innerhalb einer Frist von zehn Kalendertagen gerügt hat. Diese Voraussetzungen seien hier jedoch nicht gegeben, weil der gerügte Verstoß in dem Ausschluss vom 26.09.2023 bestehe, den der Antragsteller bereits am 29.09.2023 gegenüber dem Auftraggeber gerügt habe.
Der Antragsteller habe gerügt, dass der Auftraggeber ihn von dem Vergabeverfahren und sein Angebot von der Wertung ausgeschlossen habe, obwohl die Voraussetzungen nach § 42 Abs. 1 VgV i. V. m. § 124 Abs. 1 Nr. 8 GWB nicht gegeben seien. Denn es liege keine vorsätzliche Handlung vor, die behauptete Täuschung sei wegen der zwischenzeitlich erlangten und damals bereits erwartbaren Genehmigung von Lagerkapazitäten und wegen des Zeitablaufes bis zum Ausschluss nicht als schwerwiegend anzusehen, sie spiele im vorliegenden Verfahren auch keine Rolle, da eine entsprechende Angabe hier nicht verlangt worden sei, und der Antragsteller habe im Übrigen eine Selbstreinigung nach § 125 GWB vorgenommen. All dies betreffe nicht die Anhörung vom 31.08.2023, sondern den Ausschluss vom 26.09.2023.
Für den Lauf der Präklusionsfrist sei nicht auf einen möglicherweise zu erwartenden Verstoß gegen Vergabevorschriften abzustellen, sondern auf den bereits eingetretenen oder vollzogenen Verstoß. Ebenso wenig wie einen vorsorglichen Nachprüfungsantrag gebe es eine Obliegenheit zu einer vorsorglichen Rüge, die zur Verhinderung bevorstehender Vergabeverstöße anzubringen wäre.
Gegenstand einer Rüge nach § 160 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 GWB sei der Rechtsverstoß, der in einer dem Antragsteller zur Kenntnis gelangten Vergabeentscheidung des Auftraggebers oder in der Auftragsvergabe zum Ausdruck komme. Wenn die Rügeobliegenheit daneben auch auf Zwischenentscheidungen und Vorbereitungshandlungen des öffentlichen Auftraggebers Anwendung finden solle, müsse dies aus den Vorschriften, mittels derer die Mitgliedstaaten die Bestimmungen der Rechtsmittelrichtlinie umgesetzt hätten, klar und eindeutig hervorgehen. § 160 Abs. 3 Satz 1 GWB könne zwar mit zureichender Deutlichkeit entnommen werden, dass sich die Rügeobliegenheit auch auf Zwischenentscheidungen (Vorfestlegungen) des Auftraggebers erstrecke. Die Rügeobliegenheit werde im Gesetz durch einen vom Antragsteller erkannten Verstoß gegen Vergabevorschriften begründet - letztlich einschränkungslos durch jeden realisierten Rechtsverstoß. Da Rechtsverstöße auch bei Zwischenentscheidungen vorkommen könnten, begründeten diese bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen die Rügeobliegenheit. Zwischenentscheidungen des Auftraggebers könnten z. B. in der Auftragsbekanntmachung, in der Bekanntgabe der Vergabeunterlagen nebst Leistungsbeschreibung und Leistungsverzeichnis (einschließlich deren Änderung im laufenden Vergabeverfahren) oder in der dem Antragsteller vor einer Bieterinformation mitgeteilten Verfügung, seinen Teilnahmeantrag oder sein Angebot von der Wertung auszuschließen, liegen. Wesensmerkmal sei stets, dass es sich dabei um Entscheidungen des Auftraggebers handele, die geeignet seien, mit Blick auf die Auftragschancen der Bewerber oder Bieter Rechtswirkungen zu entfalten. Diese Eigenschaft fehle jedoch den eine Entscheidung lediglich vorbereitenden Akten des Auftraggebers. Diese unterlägen daher keiner Rügeobliegenheit. Es dürfe vielmehr abgewartet werden, ob sich diese vorbereitenden Maßnahmen in einem Vergaberechtsverstoß realisierten. Der Antragsteller sei nicht gehalten, ein künftig mögliches Fehlverhalten des Auftraggebers vorsorglich und gewissermaßen “auf Vorrat” zu rügen; lediglich vorbereitende Handlungen des Auftraggebers unterfielen deshalb nicht der Rügeobliegenheit.
So liege der Fall hier. Denn das Anhörungsschreiben vom 31.08.2023 habe noch keine Vergabeentscheidung und auch keine Vorfestlegung enthalten, sondern sollte die noch zu treffende Entscheidung über den Ausschluss des Antragstellers erst vorbereiten.
Vor diesem Hintergrund macht der Vergabesenat des OLG Jena auf der Grundlage des § 178 Satz 2 GWB von seinem Ermessen dahingehend Gebrauch, die angefochtene Entscheidung der VK Thüringen aufzuheben und diese zu verpflichten, unter Beachtung des Senats über die Sache erneut zu entscheiden.
Die Entscheidung des OLG Jena kann nur begrüßt werden. Denn sie legt nachvollziehbar dar, dass bloße Vorbereitungshandlungen des Auftraggebers noch nicht die Rügeobliegenheit des Bieters auslösen, sondern erst die spätere Vergabeentscheidung. Die Rügeobliegenheit des Bieters besteht danach nicht bereits mit dessen Anhörung im Falle eines beabsichtigten Ausschlusses, sondern erst mit dessen Ausschluss. Ähnlich hatte sich bereits das OLG Naumburg in seinem Beschluss vom 02.07.2009 (1 Verg 2/09, Leitsätze abrufbar unter folgendem Link) hinsichtlich eines Aufklärungsersuchens des Auftraggebers positioniert.
Auch wenn im Fall der Anhörung bei beabsichtigtem Ausschluss noch keine Rügeobliegenheit des betroffenen Bieters besteht, sollte der Bieter dennoch im eigenen Interesse innerhalb der gesetzten Frist eine Stellungnahme dazu abgeben, warum aus seiner Sicht die Voraussetzungen für einen Ausschluss nicht vorliegen. Dadurch werden Argumente geliefert, mit denen sich der Auftraggeber im Zuge seiner Ausschlussentscheidung auseinandersetzen muss. Idealerweise kann auf diesem Wege ein Ausschluss sogar noch verhindert werden. Zumindest aber wird die Messlatte für die Ausschlussentscheidung hochgelegt und bereits die innerhalb der 10-Tages-Frist des § 160 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 GWB ab Kenntnis des Bieters von seinem Ausschluss einzulegende Rüge inhaltlich – zumindest in weiten Teilen – vorbereitet.
Anders stellt sich die Situation hingegen dar, wenn der Auftraggeber – ohne die nach der Rechtsprechung zu gewährende Möglichkeit zur Stellungnahme – sofort den Ausschluss ausspricht oder im Einzelfall zum Ausdruck bringt, dass die Entscheidung für einen Ausschluss – unabhängig von der Rückmeldung des betroffenen Bieters im Rahmen seiner Stellungnahme – faktisch bereits feststeht. In diesen Fällen muss der Bieter unter Wahrung der Frist des § 160 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 GWB unmittelbar rügen und seine Argumente im Rahmen der Rüge vortragen.
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