Gemäß § 136 GWB sind die Regelungen über die Vergabe von öffentlichen Aufträgen durch Sektorenauftraggeber auf alle Aufträge „zum Zwecke der Ausübung einer Sektorentätigkeit“ anzuwenden. Daher stellt sich unweigerlich die Frage, wie diese Vorgabe auszulegen ist und welche Leistungen schlussendlich darunter fallen. Mit dieser Fragestellung hat sich jüngst das OLG Düsseldorf beschäftigt. Im Zuge seines Beschlusses vom 17.08.2022 (Verg 50/21, Leitsätze abrufbar unter folgendem Link) hat es sich dabei auch mustergültig mit der Rechtsprechung des EuGH sowie der nationalen Rechtsprechung der Vergabenachprüfungsinstanzen einschließlich eines eigenen Beschlusses aus dem Jahr 2008 auseinandergesetzt.
Was war passiert?
Die Auftraggeberin ist ein überwiegend im Anteilseigentum mehrerer Städte stehendes Versorgungsunternehmen im Bereich Wasser- und Energieversorgung.
Im Jahr 2021 fragte die Auftraggeberin unter anderem bei der späteren Antragstellerin ein Angebot für einen Rahmenvertrag über die Erbringung von Postdienstleistungen ab. Von einer EU-weiten Ausschreibung hatte die Auftraggeberin trotz eines geschätzten Auftragswerts von 280.000,00 Euro netto abgesehen, da sie die Postdienstleistungen als Teil ihrer Sektorentätigkeit betrachtete und der von ihr ermittelte Auftragswert unter dem insoweit maßgeblichen Schwellenwert von 428.000,00 Euro netto (nunmehr: 431.000,00 Euro netto) lag. Neben der Antragstellerin gab auch die spätere Beigeladene ein Angebot ab. Letztere wurde mit den angefragten Postdienstleistungen beauftragt. Eine Vorabinformation an die Antragstellerin unterblieb.
Daraufhin beantragte die Antragstellerin bei der VK Westfalen die Einleitung eines auf die Feststellung der Unwirksamkeit des vorgenannten Vertrages gerichteten Nachprüfungsverfahrens. Zur Begründung trug sie vor, die Vergabe sei ohne die vorgeschriebene EU-weite Ausschreibung erfolgt. Es handele sich bei den vergebenen Postdienstleistungen nicht um eine Sektorentätigkeit. Die Versorgung der Allgemeinheit mit Energie und Trinkwasser werde durch den Versand von Briefen weder ermöglicht noch gefördert, gesichert oder erleichtert.
Die angerufene VK Westfalen erklärte den an die Beigeladene vergebenen Auftrag für unwirksam und verpflichtete die Auftraggeberin bei fortbestehender Beschaffungsabsicht zur Fortsetzung der Vergabe unter Beachtung ihrer Rechtsauffassung. Die Auftraggeberin habe die Postdienstleistungen nicht als Sektorenauftraggeberin vergeben und sei daher als öffentliche Auftraggeberin dem allgemeinen Vergaberecht unterworfen.
Gegen diese Entscheidung legte die Auftraggeberin sofortige Beschwerde zum OLG Düsseldorf ein.
Mit Erfolg!
Entscheidung des OLG Düsseldorf: Die Vergabe von Postdienstleistungen gehört zur Sektorentätigkeit.
Das Vergaberechtsregime einschließlich des Nachprüfungsverfahrens sei, so führt das OLG Düsseldorf aus, gemäß § 106 Abs. 1 GWB nur eröffnet, wenn der zu schätzende Auftragswert den maßgeblichen EU-Schwellenwert erreiche oder überschreite. Maßgeblich sei gemäß § 106 Abs. 2 Nr. 2 GWB der EU-Schwellenwert für öffentliche Aufträge, die von Sektorenauftraggebern zum Zwecke der Ausübung einer Sektorentätigkeit vergeben werden. Bis zum 31.12.2021 habe dieser für die Vergabe von Liefer- und Dienstleistungen zum Zwecke der Ausübung der Sektorentätigkeit durch Sektorenauftraggeber 428.000,00 Euro netto betragen.
Dieser sei vorliegend maßgeblich, da es sich bei der streitgegenständlichen Vergabe von Postdienstleistungen an die Beigeladene um einen Auftrag handele, der von der Auftraggeberin als Sektorenauftraggeberin zum Zwecke der Ausübung ihrer Sektorentätigkeit vergeben worden sei.
Nach § 136 GWB seien die Regelungen über die Vergabe von öffentlichen Aufträgen durch Sektorenauftraggeber auf alle Aufträge anzuwenden, die zum Zwecke der Ausübung der Sektorentätigkeit vergeben würden.
Insoweit habe der EuGH in seinem Urteil vom 28.10.2020 (Rs. C-521/18 – Pegaso, abrufbar unter folgendem Link) bereits zur Richtlinie 2004/17/EG, der Vorläuferrichtlinie zur Sektorenrichtlinie 2014/25/EU, entschieden, dass diese nicht nur auf Aufträge anwendbar gewesen sei, die im Bereich einer der genannten Sektorentätigkeiten vergeben worden seien, sondern auch auf Aufträge, die, obwohl sie anderer Art gewesen seien und damit als solche eigentlich in den Anwendungsbereich der allgemeinen Vergaberichtlinie haben fallen können, der Ausübung der Sektorentätigkeiten gedient hätten. Ausreichend sei ein Zusammenhang mit der ausgeübten Sektorentätigkeit in dem Sinn, dass dieser Auftrag im Zusammenhang mit und für die Ausübung von Tätigkeiten in diesem Sektor vergeben worden sei. Daran habe sich mit Inkrafttreten der Sektorenrichtlinie 2014/25/EU nichts geändert.
Allerdings könne der Zusammenhang zwischen dem fraglichen Auftrag und diesem Sektor nicht beliebiger Art sein, da sonst der Sinne von Art. 19 Abs. 1 der Sektorenrichtlinie 2014/25/EU verkannt würde. Um feststellen zu können, dass zwischen diesem Auftrag und der Tätigkeit im Sektor ein Zusammenhang im Sinne der Richtlinie bestehe, genüge es daher nicht, dass die Dienstleistungen, die Gegenstand dieses Auftrags seien, einen positiven Beitrag zu den Tätigkeiten des Auftraggebers leisteten und deren Rentabilität erhöhten. Die Auftragstätigkeiten müssten der Ausübung der Tätigkeit im Sektor tatsächlich dienen, indem sie es ermöglichten, diese Tätigkeit im Hinblick auf ihre üblichen Ausübungsbedingungen angemessen zu bewerkstelligen.
In diesem Sinne habe der EuGH in seiner Pegaso-Entscheidung in der Vergabe von Hausmeister-, Empfangs- und Zugangskontrolldiensten für die Räumlichkeiten eines mit der Erbringung der Sektorentätigkeit Postdienstleistungen befassten Auftraggebers sogenannte Sektorenhilfstätigkeiten gesehen, weil schwer vorstellbar sei, dass Postdienste ohne Hausmeister-, Empfangs- und Zugangskontrolldienste für die Räumlichkeiten des betreffenden Anbieters angemessen erbracht werden könnten. Dabei habe der EuGH entschieden, dass dies nicht nur für die Räumlichkeiten gelte, die den Empfängern der Postdienste offenstünden und damit der Öffentlichkeit zugänglich seien, sondern gerade auch für die Räumlichkeiten, die für die Wahrnehmung von Verwaltungsaufgaben verwendet würden.
Entsprechend habe auch der erkennende Senat entschieden, dass ein Auftrag zur Errichtung eines Verwaltungsgebäudes für die eigenen Mitarbeitenden durch einen Sektorenauftraggeber noch als Auftrag „zum Zweck der Ausübung einer Sektorentätigkeit" anzusehen sei (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 21.05.2008, Verg 19/08, abrufbar unter folgendem Link).
Dieser Sichtweise habe sich auch das OLG München mit der Begründung angeschlossen, hierfür spreche insbesondere die Klarheit und Praktikabilität. Eine Differenzierung danach, welche Aufträge „unmittelbar" der Sektorentätigkeit dienten und welche nur noch als mittelbare Förderung der Sektorentätigkeit zu werten seien, führe in der Praxis zu kaum lösbaren Abgrenzungsproblemen (OLG München, Beschluss vom 13.03.2017, Verg 15/16, abrufbar unter diesem Link, unter Verweis auf BT-Drs. 18/7318, S. 208 zu § 1 SektVO).
Vor diesem Hintergrund seien die streitgegenständlichen Postdienstleistungen Tätigkeiten zum Zwecke der Ausübung der Sektorentätigkeit Trinkwasserversorgung. Ohne postalische Kommunikation mit Lieferanten und Kunden sei der Betrieb eines Trinkwasserversorgungsnetzes nicht angemessen zu bewerkstelligen. Die Erteilung und Abwicklung von Instandhaltungs- und Instandsetzungsaufträgen erfolge zumindest derzeit noch im erheblichen Umfang in analoger Form schriftlich per Brief. Dies gelte erst recht für die Kundenkommunikation zum Zwecke der Vertragsanbahnung, -auflösung und -abrechnung, die in aller Regel noch brieflich erfolge. Ohne eine solche Kommunikation sei von daher auch die Finanzierung und damit der Betrieb der Trinkwasserversorgung rein tatsächlich nicht möglich, weshalb es die streitgegenständlichen Postdienstleistungen erst ermöglichten, diese Tätigkeit im Hinblick auf ihre üblichen Ausübungsbedingungen angemessen zu bewerkstelligen.
Fazit und Praxishinweise
Dogmatisch sauber und auf Linie mit der Rechtsprechung des EuGH und der nationalen Nachprüfungsinstanzen kommt das OLG Düsseldorf zu dem Ergebnis, dass auch mittelbar der Sektorentätigkeit dienende Dienstleistungen dem Sektorenvergaberecht unterfallende Sektorenhilfstätigkeiten sind, wenn sie es ermöglichen, diese Tätigkeit im Hinblick auf ihre üblichen Ausübungsbedingungen angemessen zu bewerkstelligen.
Mit Blick auf diese weite Auslegung dürfte nunmehr fast alles eine Sektorenhilfstätigkeit darstellen. Allerdings frei nach dem Motto: „Des einen Freud‘ ist des anderen Leid.“
Denn für Sektorenauftraggeber, die zugleich öffentliche Auftraggeber sind, hat dies zur Folge, dass sie bei fast allen Beschaffungsgegenständen vom höheren EU-Schwellenwert für Sektorenvergaben und den weniger strengen Verfahrensregelungen der SektVO profitieren. Hier kommt es infolge der weiten Auslegung der Sektorenhilfstätigkeit zu einer Vergrößerung des Anwendungsbereichs des Sektorenauftragsrechts zu Lasten desjenigen des strengeren, allgemeinen Kartellvergaberechts.
Für private Sektorenauftraggeber, die außerhalb von Sektorenvergaben nicht dem (Kartell-)Vergaberecht unterliegen, führt dieses weite Verständnis von Sektoren(-hilfs-)tätigkeiten hingegen dazu, dass – das Erreichen bzw. Überschreiten des höheren EU-Schwellenwertes vorausgesetzt – nunmehr bei den meisten Beschaffungsgegenständen (zumindest mit Blick auf die Schaffung/Erhöhung von Rechtssicherheit) ein Vergabeverfahren nach der SektVO durchzuführen ist. Hier kommt es im Ergebnis also eher zu einer Ausweitung der Ausschreibungspflicht nach Sektorenauftragsrecht zu Lasten einer ausschreibungsfreien Auftragsvergabe.
Haben Sie Fragen im Zusammenhang mit der Vergabe von (Sektoren-)Aufträgen? Wir beraten Sie gerne!