Fall 1
In der Rechtssache C-317/01 hatten mehrere türkische Staatsangehörige den deutschen Instanzenzug durchschritten und auf Feststellung geklagt, dass sie keiner deutschen Arbeitsgenehmigung bedürfen. Die türkischen Kläger wohnen in der Türkei und sind hauptsächlich als Kraftfahrer im grenzüberschreitenden Güterverkehr tätig. Sie sind angestellt bei einem Transportunternehmen mit Sitz in der Türkei. Bei diesem Unternehmen handelt es sich um die Tochtergesellschaft eines in Deutschland ansässigen Transportunternehmens. Die beiden Unternehmen führen Obst und Gemüse, das größtenteils aus eigenem Anbau in der Türkei stammt, nach Deutschland ein. Die Ware wird mit Lastkraftwagen, die auf das deutsche Unternehmen zugelassen sind und von den türkischen Klägern gefahren werden, von der Türkei nach Deutschland transportiert. Die Bundesanstalt für Arbeit hatte jedem dieser Fahrer eine bis zum 30. September 1996 gültige (deklaratorische) Arbeitserlaubnis ausgestellt. Für die Zeit danach lehnte sie jedoch die Erteilung neuer Arbeitserlaubnisse ab. Der 11. Senat des Bundessozialgerichts war der Ansicht, dass die Entscheidung des bei ihm letztinstanzlich anhängigen Rechtsstreits von der Auslegung europäischen Gemeinschaftsrechts abhänge und legte dem EuGH mehrere Fragen zur Vorabentscheidung vor.
Fall 2
In der Rechtssache C-369/01 setzte der 7. Senat des Bundessozialgerichts ein bei ihm anhängiges Verfahren aus und legte dem Gerichtshof ebenfalls verschiedene Fragen zur Vorabentscheidung vor. Im dortigen Rechtsstreit hatte ein ursprünglich türkischer Staatsangehöriger, der zwischenzeitlich die deutsche Staatsangehörigkeit erlangt hat, geklagt. Der Kläger betreibt ein Transportunternehmen mit Sitz in Deutschland sowie ein weiteres Transportunternehmen - eine Tochtergesellschaft des deutschen Unternehmens - in der Türkei. Das deutsche Transportunternehmen ist Eigentümer mehrerer Lkw, die im grenzüberschreitenden Güterverkehr zwischen Deutschland und Drittstaaten wie der Türkei, dem Irak und dem Iran eingesetzt werden. Sämtliche Lkw sind in Deutschland zugelassen. Zwischen dem deutschen und dem türkischen Tochterunternehmen besteht ein Agenturvertrag, aufgrund dessen letzteres die Lkw der Muttergesellschaft im grenzüberschreitenden Güterverkehr nutzt. Das deutsche Transportunternehmen setzte bereits 1993 türkische Arbeitnehmer, die in der Türkei leben und bei der türkischen Gesellschaft angestellt sind, als Fahrer der in Deutschland zugelassenen Lkw ein. Für jeden Transport nach Deutschland erhielten sie vom zuständigen deutschen Generalkonsulat ein Visum. Nach Ansicht der Bundesanstalt für Arbeit bedurften diese Fahrer zunächst keiner Arbeitserlaubnis. Mitte 1995 stellte sie sich sodann auf den Standpunkt, dass der Einsatz ausländischer Fahrer zum Führen von in Deutschland zugelassenen Fahrzeugen nicht mehr arbeitserlaubnisfrei sei. Auch in diesem Rechtsstreit beantragte der Kläger daher die Feststellung, dass die türkischen Arbeitnehmer für ihre Tätigkeit in Deutschland keiner Arbeitserlaubnis bedürfen.
Die deutsche Rechtsprechung
Durch die am 1. September 1993 in Kraft getretene zehnte Änderungsverordnung der Verordnung über die Arbeitserlaubnis für nichtdeutsche Arbeitnehmer (Arbeitserlaubnisverordnung/AEVO) wurde § 9 Nr. 2 AEVO dahingehend geändert, dass im grenzüberschreitenden Personen- und Güterverkehr fahrendes Personal bei Arbeitgebern mit Sitz im Ausland keiner Arbeitserlaubnis bedarf. Dementsprechend konnte die Tätigkeit der hier in Rede stehenden türkischen Fahrer für ihren Arbeitgeber mit Sitz in der Türkei seinerzeit arbeitsgenehmigungsfrei erfolgen. Im Jahr 1996 wurde § 9 Nr. 2 AEVO allerdings erneut geändert. Nunmehr sah er in seiner ab dem 10. Oktober 1996 geltenden Fassung vor, dass das fahrende Personal im grenzüberschreitenden Personen- und Güterverkehr bei Arbeitgebern mit Sitz im Ausland nur dann keiner Arbeitsgenehmigung bedarf, wenn das Fahrzeug im Sitzstaat des Arbeitgebers zugelassen ist. Zwischenzeitlich ist § 9 Nr. 2 AEVO durch den inhaltsgleichen § 9 Nr. 3 der Verordnung über die Arbeitsgenehmigung für ausländische Arbeitnehmer (ArGV) ersetzt worden. Da die türkischen Fahrer ausschließlich auf in Deutschland und nicht auf in der Türkei zugelassenen Lkw eingesetzt werden, hätten sie aufgrund dieser Gesetzesänderung somit grundsätzlich seit Oktober 1996 für ihre Tätigkeit in Deutschland deutsche Arbeitsgenehmigungen benötigt.
So sah es der EuGH
Der EuGH hatte nun darüber zu entscheiden, ob diesem Ergebnis die Stillhalteklauseln des Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls zum Assoziierungsabkommen EWG-Türkei, das in Deutschland am 1. Januar 1973 in Kraft trat, und des Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG-Türkei vom 19. September 1980 entgegenstehen.
Zur Förderung ihrer Handels- und Wirtschaftsbeziehungen hatten 1963 die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und die Türkei ein Assoziierungsabkommen unterzeichnet, das 1972 durch ein Zusatzprotokoll ergänzt wurde. Im Rahmen dieses Abkommens wurde im Jahr 1980 vom Assoziationsrat der Beschluss Nr. 1/80 erlassen. Das Zusatzprotokoll enthält in seinem Art. 41 Abs. 1 eine Stillhalteklausel, die den Vertragsparteien verbietet, untereinander neue Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs einzuführen. Die in Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 befindliche Stillhalteklausel untersagt den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft und der Türkei, für Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß sind, neue Beschränkungen der Bedingungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einzuführen.
Der EuGH stellte in seinem Urteil vom 21.10.2003 zunächst (erneut) fest, dass sowohl Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls als auch Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 eine unmittelbare Wirkung zukomme, so dass sich türkische Staatsangehörige, für die diese Bestimmungen gelten, vor den innerstaatlichen Gerichten auf sie berufen könnten. Dass die in Rede stehenden Bestimmungen klare, präzise und nicht an Bedingungen geknüpfte, eindeutige Stillhalteklauseln enthielten, hatte der EuGH bereits in früheren Urteilen ausgeführt (Urteil vom 11. Mai 2000 in der Rechtssache C-37/98, Savas; Urteil vom 20. September 1990 in der Rechtssache C-192/89, Sevince).
Sodann prüfte der EuGH die Bedeutung dieser beiden Stillhalteklauseln und kam zu dem Ergebnis, dass sie dieselbe Funktion hätten und dasselbe Ziel verfolgten: Sie untersagten nämlich ganz generell die Einführung neuer innerstaatlicher Beschränkungen des Niederlassungsrechts, des freien Dienstleistungsverkehrs und der Freizügigkeit der Arbeitnehmer von dem Zeitpunkt an, zu dem die Stillhalteklauseln im Aufnahmemitgliedstaat in Kraft getreten seien, um so die schrittweise Herstellung dieser Freiheiten zwischen den Mitgliedstaaten und der Türkei nicht zu erschweren.
Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 sei aber, so der EuGH im Weiteren, bei türkischen Staatsangehörigen nur dann anwendbar, wenn diese sich im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaates nicht nur ordnungsgemäß, sondern auch während eines hinreichend langen Zeitraums aufhielten, um sich dort schrittweise integrieren zu können. Aus Aufbau und Zielsetzung des Beschlusses Nr. 1/80 ergebe sich nämlich, dass dieser Beschluss die schrittweise Integration türkischer Arbeitnehmer im Aufnahmemitgliedstaat zum wesentlichen Ziel habe. Diese Voraussetzung sei bei einem Sachverhalt wie dem den Ausgangsverfahren zugrundeliegenden allerdings nicht gegeben. Die dort in Rede stehenden türkischen Fahrer hielten sich jeweils nur für sehr kurze Zeit auf deutschem Gebiet auf, um aus der Türkei stammende Waren zu entladen oder Waren zur Beförderung in die Türkei, den Iran oder den Irak zu beladen. Nach jeder Fahrt kehrten sie in die Türkei zurück, wo sie mit ihrer Familie wohnten oder wo das Unternehmen, bei dem sie beschäftigt seien und von dem sie entlohnt würden, seinen Sitz hätte. Die türkischen Fahrer hätten daher nicht die Absicht, sich in den Arbeitsmarkt der Bundesrepublik Deutschland als Aufnahmemitgliedstaat zu integrieren.
Hingegen sei die Stillhalteklausel in Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls auf Situationen wie die der Ausgangsverfahren anwendbar. Die Rechtslage auf dem Gebiet des grenzüberschreitenden Güterverkehrs auf der Straße beurteile sich im Rahmen der Assoziation EWG-Türkei nach den allgemeinen, für Dienstleistungen geltenden Vorschriften, wenn Verkehrsdienstleistungen im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates erbracht würden. Demzufolge könne sich ein Unternehmen mit Sitz in der Türkei, das rechtmäßig Dienstleistungen in einem Mitgliedstaat erbringe, unzweifelhaft auf Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls berufen, um sich gegen eine neue Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs zu wenden. Gleiches gelte für die Beschäftigten eines solchen Unternehmens, da ein Dienstleistungserbringer seine Leistungen ohne Beschäftigte nicht erbringen könne. Im Gegensatz dazu könne sich allerdings ein Unternehmen mit Sitz in einem Mitgliedstaat nicht auf Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls berufen, wenn die Dienstleistungsempfänger in demselben Mitgliedstaat ansässig seien. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH könne sich nämlich ein Leistungserbringer gegenüber dem Staat, in dem er ansässig ist, nur dann auf das Recht auf freien Dienstleistungsverkehr berufen, wenn die Leistungen an Leistungsempfänger erbracht würden, die in einem anderen Mitgliedstaat ansässig seien (vgl. Urteil vom 10. Mai 1995 in der Rechtssache C-384/93, Alpine Investments, und vom 11. Juli 2002 in der Rechtssache C-60/00, Carpenter). Demzufolge könne sich ein deutsches Transportunternehmen nicht auf Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls berufen, wenn der Empfänger der Beförderungsleistung seinen Sitz in Deutschland habe.
Des Weiteren führte der EuGH aus, dass eine Regelung wie die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende eine Beschränkung des Rechts in der Türkei ansässiger natürlicher und juristischer Personen darstelle, frei Dienstleistungen in einem Mitgliedstaat zu erbringen. Eine nationale Regelung stelle nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH dann eine Beschränkung des in Art. 49 EGV verankerten Grundsatzes des freien Dienstleistungsverkehrs dar, wenn sie die Erbringung von Dienstleistungen durch ein in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassenes Unternehmen im Inland von der Erteilung einer behördlichen Erlaubnis wie einer Arbeitserlaubnis abhängig mache (vgl. Urteile vom 27. März 1990 in der Rechtssache C-113/89, Rush Portuguesa; vom 25. Juli 1991 in der Rechtssache C-76/90, Säger; vom 09. August 1994 in der Rechtssache C-43/93, Vander Elst; und vom 09. März 2000 in der Rechtssache C-355/98, Kommission/Belgien). Dies gelte insbesondere, wenn – wie in den Ausgangsverfahren – nach dem In-Kraft-Treten der Änderung der Arbeitserlaubnisverordnung die Erteilung einer solchen Arbeitserlaubnis durchgehend versagt werde. Eine derart angewandte nationale Regelung habe nämlich für den Leistungserbringer nicht nur Kosten und zusätzliche verwaltungsmäßige und wirtschaftliche Belastungen zur Folge, sondern beeinträchtige ganz allgemein seine Fähigkeit, in dem betreffenden Mitgliedstaat Dienstleistungen zu erbringen, da er hierfür dort seine Beschäftigten nicht einsetzen könne. Hinzu käme, dass es nicht als geeignete Maßnahme erscheine, von Arbeitnehmern, die bei einem in einem Drittstaat ansässigen Unternehmen beschäftigt und vorübergehend zur Erbringung einer Dienstleistung in einen anderen Mitgliedstaat entsandt würden, jedoch keinen Zutritt zum Arbeitsmarkt dieses Staates begehrten, da sie nach Erfüllung ihrer Aufgabe in ihr Herkunfts- oder Wohnsitzland zurückkehrten, den Besitz einer Arbeitserlaubnis zu ver-langen, die den Zugang ausländischer Arbeitnehmer zum nationalen Arbeitsmarkt regeln solle. Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls verbiete es somit, im nationalen Recht eines Mitgliedstaates für die Erbringung von Dienstleistungen im Inland durch ein Unternehmen mit Sitz in der Türkei den Besitz einer Arbeitserlaubnis vorzuschreiben, wenn eine solche Arbeitserlaubnis nicht bereits beim In-Kraft-Treten dieses Zusatzprotokolls erforderlich gewesen sei.
Abschließend stellte der EuGH fest, dass es aber Sache der innerstaatlichen Gerichte sei zu prüfen, ob es sich bei der seit 1996 geltenden deutschen Regelung um eine neue Beschränkung in dem Sinne handele, dass sie die Situation türkischer Fahrer gegenüber jener Situation erschwere, die sich aus den in Deutschland für sie zum Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens des Zusatzprotokolls, also am 1. Januar 1973, geltenden Vorschriften ergebe.
Unser Fazit
Eine durchaus wegweisende Entscheidung des EuGH – nicht nur zur Dienstleistungsfreiheit in der Türkei ansässiger Transportunternehmer und derer im grenzüberschreitenden Güterverkehr eingesetzten Kraftfahrer. Die Argumentation des EuGH dürfte vielmehr auch auf in der EU ansässige Transportunternehmen, die ordnungsgemäß beschäftigtes, drittstaatsangehöriges Fahrpersonal im grenzüberschreitenden Güterverkehr einsetzen, übertragbar sein. Mit seinem Urteil in der Rechtssache „Vander Elst“ hatte der EuGH bereits entschieden, dass die Dienstleistungsfreiheit eines in Belgien ansässigen Unternehmens, das in Belgien ordnungsgemäß beschäftigte Marokkaner vorübergehend zur Ausführung von Arbeiten in Frankreich einsetzt, dann beschränkt wird, wenn französische Behörden von den marokkanischen Arbeitnehmern den Besitz einer französischen Arbeitserlaubnis verlangen. Mit seinem aktuellen Urteil betont der EuGH nun, dass im Ausland beschäftigte Arbeitnehmer, die als Kraftfahrer im grenzüberschreitenden Güterverkehr tätig sind, keinerlei Zugang zum nationalen Arbeitsmarkt derjenigen EU-Mitgliedstaaten begehren, die lediglich zu Zwecken des Be- oder Entladens angefahren werden. Eine nationale Regelung wie die deutsche, von solchen drittstaatsangehörigen Fahrern Arbeitsgenehmigungen zu verlangen, wenn der Lkw nicht im Sitzstaat des Arbeitgebers zugelassen ist, ist daher jedenfalls unter arbeitsmarktpolitischen Gesichtspunkten nicht zu rechtfertigen.