Dies hebt Generalanwältin Verica Trstenjak in ihren Schlussanträgen vom 28.03.2007 in der Rechtssache C-503/04 hervor. In der Sache geht es um Verträge der Gemeinde Bockhorn und der Stadt Braunschweig, die ohne Beachtung des Vergaberechts langjährig über die Ableitung von Abwässern und thermische Behandlung von Restabfall an einen Privaten vergeben wurden. Im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens hatte der EuGH in beiden Fällen festgestellt, dass europäisches Vergaberecht verletzt sei (Urteil vom 10.04.2003, Rs. C-20/01). Daraufhin forderte die Europäische Kommission die Bundesregierung auf, Maßnahmen zur Beendigung beider Verträge zu ergreifen, was diese insbesondere mit dem Argument „pacta sunt servanda“ abgelehnt hat. Die Kommission hat danach wiederum Klage vor dem EuGH erhoben mit dem Antrag festzustellen, dass Deutschland gegen seine Verpflichtung aus Artikel 228 Absatz 1 EG-Vertrag verstoßen habe, indem es nicht die Maßnahmen ergriffen habe, die sich aus dem Urteil des EuGH vom 10.04.2003 ergäben. Da beide Verträge im Jahre 2005 angesichts des politischen Drucks der Kommission aufgehoben wurden, beantragt die Bundesregierung Einstellung des Verfahrens; die Kommission hält die Klage mit ihrem Feststellungsbegehren aufrecht.
„Pacta sunt servanda“?
Zentrale Frage des Rechtsstreits ist, ob vergaberechtswidrig geschlossene Verträge Bestandsschutz unter dem Gesichtspunkt „pacta sunt servanda“ genießen. In diesem Zusammenhang betont die Generalanwältin zunächst, dass ein Mitgliedstaat gehalten sei, alle geeigneten Maßnahmen zur Beseitigung einer Pflichtverletzung zu ergreifen. Insbesondere sei es einem Mitgliedstaat verwährt, sich auf innerstaatliche Probleme bei der Durchführung oder Umsetzung einer Gemeinschaftsnorm zu berufen; dies gelte auch für etwaige Bestimmungen, Übungen oder Umstände seiner Rechtsordnung. Die Bundesregierung könne sich dementsprechend nicht darauf berufen, dass das öffentliche Auftragswesen nach ihrer Rechtsordnung zivilrechtliche Grundzüge aufweise und somit der öffentliche Auftraggeber als mit dem Auftragnehmer gleichgestellter Partner an einen privatrechtlichen Vertrag gebunden sei („pacta sunt servanda“). Dies widerspreche einer einheitlichen Geltung des Gemeinschaftsrechts in allen Mitgliedstaaten.
Pflicht zur Beendigung von Verträgen?
Nach Auffassung der Generalanwältin spricht Vieles dafür, dass der EuGH vor dem Hintergrund seiner Ausführungen im Urteil vom 10.04.2003 eine Pflicht zur Beendigung vergaberechtswidrig geschlossener Verträge im Grundsatz bejahen werde. Der Gedanke des „effet utile“ im Sinne einer weitestgehenden praktischen Wirksamkeit der Vergaberichtlinien erlaube keine andere Schlussfolgerung. Die praktische Wirksamkeit der Vergaberichtlinien stelle einen zentralen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts dar, der so lange fortdauere, bis der Vertrag vollständig erfüllt sei oder in sonstiger Weise ende. Solle dieser Grundsatz nicht leer laufen, müsse ein im Vertragsverletzungsverfahren festgestellter Verstoß durch Beendigung des Vertrages beseitigt werden. Im Übrigen sei auch unter dem Gesichtspunkt der Abschreckung eine Aufhebungspflicht vergaberechtswidriger Verträge erforderlich. Eine Perpetuierung des gemeinschaftsrechtswidrigen Zustandes müsse vermieden werden. Einer solcher Aufhebungspflicht stehe das Sekundärrecht, konkret Artikel 2 Absatz 6 der Rechtsmittelrichtlinie 89/665/EWG, welcher Mitgliedstaaten das Recht zuerkenne, die Befugnisse der Nachprüfungsinstanzen auf die Zuerkennung von Schadenersatz zu beschränken, nicht entgegen. Die Vorschrift habe allein Bedeutung für die Ausgestaltung des individuellen Rechtsschutzes gegen rechtswidrige Vergabeentscheidungen in den Mitgliedstaaten. Sie sage dagegen nichts über den Schutz des Gemeinschaftsinteresses aus, welches klar vom Individualinteresse der Bieter zu unterscheiden sei.
Fazit
Die Entscheidung des EuGH ist von erheblicher praktischer Bedeutung. Bislang konnten Vertragsparteien vor dem Hintergrund des nationalen verfassungsrechtlichen Prinzips des „pacta sunt servanda“ von einem Bestandsschutz (auch) vergaberechtswidrig geschlossener Verträge ausgehen, sofern kein Nichtigkeitstatbestand vorliegt. Dies ist allerdings nur in seltenen Fällen (§ 13 Satz 6 VgV; § 138 BGB) überhaupt anzunehmen. Sollte der EuGH daher der Generalanwältin folgen, müssten öffentliche Auftraggeber in Zukunft eine noch größere vergaberechtliche Sorgfalt für einen „vergaberechtssicheren Weg“ aufwenden.