EuGH-Urteil vom 16.12.2004 mit erheblichen Auswirkungen für Verbringungspraxis
In dem daraufhin geführten verwaltungsgerichtlichen Verfahren hatte das OVG Rheinland-Pfalz dem Europäischen Gerichtshof mehrere Fragen vorgelegt, die sich mit den Interventionsbefugnissen der Behörden im Versandstaat befassten. In seinem Urteil vom 16.12.2004 gab der Europäische Gerichtshof hierauf nun Antworten. Diese werden das gegenwärtige Verbringungsrecht und die behördliche Einwandspraxis voraussichtlich nachhaltig verändern.
Erweiterte behördliche Interventionsbefugnisse
Nach Auffassung des Europäischen Gerichtshof seien alle mit der Kontrolle der Abfallverbringung betrauten zuständigen Behörden bei ihrer Genehmigungsentscheidung nicht darauf beschränkt, nur rein transportbezo-gene Faktoren in ihre Entscheidung einfließen zu lassen. Sie dürften vielmehr auch diejenigen Faktoren berücksichtigen, die im Zusammenhang mit der angestrebten Verwertungsmaßnahme selbst stehen. Da die Abfallrahmenrichtlinie und die EG-Abfallverbringungsverordnung dem Erhalt der Gesundheit und der Umwelt einen außerordentlich hohen Stellenwert einräumten, muss nach Ansicht des Europäischen Gerichtshofs der Artikel 7 Abs. 4 Buchstabe a) 1. Tiret der EG-AbfVerbrV dahingehend ausgelegt werden, dass sowohl die Versandstaatsbehörden als auch die Bestimmungsstaatsbehörden ermächtigt seien, Einwände gegen eine ge-plante Verbringung von zur Verwertung bestimmten Abfällen mit der Begründung zu erheben, dass die vorgesehene Verwertung am Bestimmungsort die menschliche Gesundheit oder die Umwelt schädigen könne.
Nationale Gesundheits- und Umweltschutzanforderungen gelten auch für Verwertung im Ausland
Dem Europäischen Gerichtshof zur Folge seien beim Abfallexport zur Verwertung alle zuständigen Behörden gleichermaßen verpflichtet, die mit Verwertungsmaßnahme verbundenen Risiken für die menschliche Gesundheit und die Umwelt umfassend zu überprüfen und alle in dieser Hinsicht sachdienlichen Kriterien zu berücksichtigen. Entscheidungsgrundlage könnten damit auch die im Versandstaat geltenden rechtlichen Kriterien sein, auch wenn sie strenger seien als die des Bestimmungsstaats. Folglich müsse es der zuständigen Behörde am Versandort erlaubt sein, einen Einwand gegen die geplante Abfallverbringung zu erheben, der darauf gestützt werde, dass die beabsichtigte Verwertung im Ausland nationale Vorschriften für die Verwertung im Inland missachtet.
Strengere deutsche Regeln bei Verwertung in Italien zu beachten
Deutsche Versandbehörden könnten mithin bei jedem Abfallexport zur Verwertung prüfen, ob die anvisierte Verwertung des fraglichen Abfalls im Ausland unter Zugrundelegung der nationalen deutschen Rechtslage im Inland zulässig wäre. Sollte eine Verwertung nach deutschen Standards nicht möglich sein, wäre ein Abfallexport zu verbieten. Andernfalls wäre das gemeinschaftliche Ziel eines hohen Maßes an Umweltschutz, Schutz der menschlichen Gesundheit und Verbesserung der Umweltqualität gefährdet.
Die zuständige Behörde im Versandstaat kann sich damit auf den Inhalt ihrer Normen mit hohem Schutzniveau für die Umwelt berufen und folglich einer Verbringung von Abfällen widersprechen, wenn die Bedingungen unter denen diese Abfälle im Bestimmungsstaat verwertet werden unter Zugrundelegung der strengeren Normen im Versandstaat Gefahren für die menschliche Gesundheit oder die Umwelt mit sich bringen.
Umfassende behördliche Abwägung notwendig
Allerdings seien die zuständigen Behörden des Versandstaats nur dann an die strengeren Kriterien ihres Staates gebunden, wenn diese auch tatsächlich in höherem Maßnahme zur Vermeidung von Gesundheits- und Umweltrisiken geeignet seien als diejenigen des Bestimmungsstaates.
Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als Grenze der Behördenentscheidung
Gleichzeitig macht das Gericht deutlich, dass der auf die eigenen nationalen Verwertungsnormen gestützte Einwand der Behörde im Versandstaat nur dann rechtmäßig sein könne, wenn diese Normen unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zur Erreichung des Ziels (Gefahren für die menschliche Gesundheit und die Umwelt vorzubeugen und zu vermeiden) geeignet, erforderlich und angemessen seien. Dabei seien die Gefahren für die menschliche Gesundheit und die Umwelt nicht anhand allgemeiner Überlegungen, sondern immer auf der Grundlage relevanter wissenschaftlicher Untersuchungen zu beurteilen.
Für die nationalen Gerichte bedeutet dies, dass sie bei Klagen gegen den Einwand der höheren nationalen Umweltstandards zu prüfen haben, ob bei der Anwendung der strengeren nationalen Umwelt- und Gesundheitsnormen der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit strikt beachtet worden ist.
Rechtsgrundlage im Bescheid beachten!
Gleichzeitig stellt der Europäische Gerichtshof klar, dass der Einwand der höheren nationalen Umweltstandards nur auf Grundlage von Artikel 7 Abs. 4, 1. Tiret EG-AbfVerbrV gegründet werden kann. Für den Empfänger einer ablehnenden Behördenentscheidung bedeutet dies, in Zukunft den Bescheid auch darauf hin genauestens zu überprüfen. Der bisher als Rechtsgrundlage für einen derartigen Einwand angesehene Artikel 7 Abs. 4, 2. Tiret EG-AbfVerbrV erfasst nämlich laut Gerichtshof den Fall eines Einwandes gegen die Verwertung gerade nicht, sondern bezieht sich nur auf rein transportbezogene Vorgänge im Hoheitsgebiet der jeweiligen betroffenen Behörden. Damit wären in Zukunft Behördenentscheidungen, die den Einwand der höheren nationalen Umweltstandards allein auf Artikel 7 Abs. 4, 2. Tiret EG-AbfVerbrV gründen, im Einzelfall unter Berücksichtigung der Vorgaben des Europäischen Gerichtshofes und derjenigen der deutschen Gerichte anfechtbar.
Da für Abfälle zur Verwertung geklärt ist, dass ein unrechtmäßig erhobener Einwand nicht geeignet ist, eine Genehmigungsverweigerung zu tragen, dieser vielmehr als überhaupt nicht erhoben angesehen werden muss und zudem nach Ablauf der 30-Tages Frist die Nachbesserung eines gegen die Verbringung erhobenen Einwandes (auch im Rechtsbehelfsverfahren) ausgeschlossen ist, wäre ein Abfallexport dann nicht mehr zu verhindern (vgl. auch OVG Münster-20B282/04- Beschluss vom 24.März 2004).
Fazit
Nach dem EuGH-Urteil können mithin die zuständigen Behörden des Versandstaates Einwände gegen den Abfallexport geltend machen, wenn die beabsichtigte Verwertung im Ausland nicht den Umweltschutzanforderungen im eigenen Land genügen. Dieser bisher unbekannten Erweiterung der behördlichen Einwandsbefugnisse stellt der EuGH den zuständigen Behörden gleichzeitig einen erheblichen Mehrprüfungs- und Ermittlungsaufwand gegenüber. Deutsche Behörden können zwar in Zukunft Verwertungsmaßnahmen im Ausland an den strengeren deutschen Umwelt- und Gesundheitsstandards messen, sie haben aber dann gleichzeitig erheblichen Prüfungsaufwand zu bewerkstelligen, wenn sie sowohl die nationalen Vorgaben als auch die ausländischen Vorgaben für eine Verwertungsmaßnahme auf Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessen-heit unter strikter Berücksichtigung verwandter wissenschaftlicher Untersuchungen zu beurteilen haben.
Gerichtliche Auseinandersetzungen vorprogrammiert
Gerichtliche Streitigkeiten sind damit vorprogrammiert. Sollten deutsche Behörden ihre Einwandspraxis in Zukunft auf dieses Urteil abstimmen, hätten sie in jedem Einzelfall zu prüfen, ob die im Bestimmungsstaat vorgesehene Verwertung, auch wenn sie durch weniger strenge Vorschriften geregelt ist, nicht trotzdem geeignet ist, einen Schutz zu gewährleisten, der mit dem vergleichbar ist, was in den strengeren deutschen Vorschriften angestrebt wird.
Abfallverbringung ist ein Massengeschäft. Vor diesem Hintergrund stellt sich insbesondere die Frage, wie eine solche Prüfung von deutschen Behörden in einer für die notifizierende Person akzeptablen Frist praktisch überhaupt realisierbar ist.