Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs haften Mitgliedstaaten schon bisher grundsätzlich für ihnen zurechenbare Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht. Dies gilt unabhängig davon, welches mitgliedstaatliche Organ durch sein Handeln oder Unterlassen den Verstoß begangen hat. Die Haftung entsteht unter drei Voraussetzungen: Erstens muss die verletzte Gemeinschaftsrechtsnorm den Schutz des Einzelnen bezwecken, zweitens muss der Verstoß gegen die Norm hinreichend qualifiziert sein und drittens muss ein kausaler Zusammenhang zwischen der Verletzung der Gemeinschaftsrechtsnorm und dem eingetretenen Schaden bestehen. Ein Verschulden ist nicht erforderlich. Wann ein Verstoß in diesem Sinne hinreichend qualifiziert ist, hängt nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs von den Umständen des Einzelfalls ab, etwa dem Maß an Klarheit und Präzision der verletzten Vorschrift, der Vorsätzlichkeit des Verstoßes oder der Entschuldbarkeit des Rechtsirrtums.
Der Gerichtshof betont in seiner neuen Entscheidung, dass auch Handlungen der Gerichtsbarkeit dem jeweiligen Mitgliedstaat voll zuzurechnen sind und Haftungsansprüche eröffnen können. Dies gelte insbesondere für rechtskräftige letztinstanzliche Urteile. Da eine durch eine solche Entscheidung erfolgte Verletzung der einem Einzelnen aufgrund des Gemeinschaftsrechts zustehenden Rechte regelmäßig nicht rückgängig gemacht werden könne, dürfe den Betroffenen nicht die Befugnis genommen werden, den Staat haftbar zu machen, um auf diesem Wege gerichtlichen Rechtsschutz zu erlangen. Der Grundsatz der Rechtssicherheit stehe dem ebenso wenig entgegen – so der EuGH – wie die Unabhängigkeit und Autorität der Richter. Der Bestand eines Urteils sei durch den Haftungsanspruch nicht betroffen und die Richter würden auch nicht persönlich haftbar gemacht.
Im Übrigen ist es Sache der Mitgliedstaaten – so der EuGH – zu bestimmen, welches nationale Gericht für die Durchsetzung des Haftungsanspruchs zuständig sein soll. Für die Frage, ob ein hinreichend qualifizierter Verstoß vorliege, müsse das zuständige Gericht unter Berücksichtigung der Besonderheit der richterlichen Funktion prüfen, ob der Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht offenkundig ist. Dies ist aus Sicht des Gerichtshofs jedenfalls dann der Fall, wenn das Gemeinschaftsrecht die streitgegenständliche Frage ausdrücklich regelt bzw. sie von der Rechtsprechung des EuGH bereits entschieden worden ist oder die fragliche Entscheidung die einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs offenkundig verkennt bzw. die Antwort auf die betreffende Frage auf der Hand liegt.
In dem der Entscheidung des Gerichtshofs zugrundeliegenden Fall wurde ein Verstoß gegen die Grundfreiheit der Freizügigkeit bejaht, ein hinreichend qualifizierter Verstoß aber wegen Fehlen der Offenkundigkeit verneint.