§ 622 Abs. 2 Satz 2 BGB sieht vor, dass die Betriebszugehörigkeitszeiten vor Vollendung des 25. Lebensjahres bei der Berechnung der Kündigungsfristen nicht berücksichtigt werden. Der Europäische Gerichtshof hat diese Regelung am 19. Januar 2010 in seiner Kücükdeveci-Entscheidung als einen Verstoß gegen das Verbot der Altersdiskriminierung und damit als europarechtswidrig eingestuft. Zugleich hat der EuGH betont, dass die deutschen Gerichte gehalten sind, die fragliche Regelung unangewendet zu lassen. Es wird kein Vertrauensschutz für die Vergangenheit gewährt.
Die Entscheidung hat weitreichende Folgen. Wir zeigen Ihnen die Konsequenzen für anhängige Kündigungsschutzverfahren und bereits beendete Arbeitsverhältnisse auf. Zudem erläutern wir die Auswirkungen auf vergleichbare Normen in Arbeitsverträgen, Betriebsvereinbarungen sowie Tarifverträgen. Es besteht Handlungsbedarf.
I. Inhalt der Entscheidung
Das Urteil des EuGH behandelt zwei Aspekte. Zunächst wird festgestellt, dass § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB als nicht gerechtfertigter Verstoß gegen das Verbot der Altersdiskriminierung europarechtswidrig ist. Nach dieser Vorschrift sollen Beschäftigungszeiten vor Vollendung des 25. Lebensjahres bei der Berechnung der gesetzlichen Kündigungsfristen unberücksichtigt bleiben. Nach Auffassung des EuGH verfolgt die Regelung zwar ein zulässiges Ziel – nämlich die Entlastung der Arbeitgeber bei der Entlassung jüngerer Arbeitnehmer, denen es regelmäßig leichter falle, auf den Verlust ihres Arbeitsplatzes zu reagieren. Die Vorschrift sei zur Erreichung dieses Ziels aber unangemessen und ungeeignet, weil sie pauschal alle Arbeitnehmer erfasse, die vor Vollendung des 25. Lebensjahres eingetreten seien – unabhängig davon, wie alt diese zum Zeitpunkt der Kündigung sind.
Der zweite Aspekt des Urteils ist der für die arbeitsrechtliche Praxis in Deutschland interessantere: Der EuGH stellt nämlich auch fest, die nationalen Gerichte seien gehalten, nationale Vorschriften, die dem Verbot der Altersdiskriminierung zuwiderlaufen, unberücksichtigt zu lassen. Danach dürfen deutsche Gerichte diese Vorschrift somit nicht mehr anwenden.
II. Folgen der Unanwendbarkeit des § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB
Die EuGH-Entscheidung hat Folgen sowohl für anhängige Kündigungsschutzverfahren als auch für bereits beendete Arbeitsverhältnisse.
1. Anhängige Kündigungsschutzverfahren
Arbeitsgerichte werden künftig bei der Urteilsfindung § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB ausblenden müssen, dies gilt auch für bereits anhängige Kündigungsschutzverfahren. Es spielt dabei keine Rolle, ob der Arbeitgeber die Kündigung schon vor oder erst nach dem EuGH-Urteil vom 19. Januar 2010 ausgesprochen hat. Es ist davon auszugehen, dass die deutsche Rechtsprechung aller Voraussicht nach keinen Vertrauensschutz gewähren wird. Arbeitgeber werden also nicht geltend machen können, sie hätten auf die alte Rechtslage und § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB vertraut. Das ist die schlechte Nachricht.
Die gute Nachricht: Der Arbeitgeber wird das Kündigungsschutzverfahren nicht allein deshalb verlieren, weil er die Kündigungsfrist unter Beachtung von § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB zu kurz bemessen hat. Ist die Kündigung im Übrigen materiell rechtmäßig, so wird das Arbeitsgericht nur die richtige Kündigungsfrist und damit den richtigen Beendigungstermin feststellen.
2. Bereits beendete Arbeitsverhältnisse
Hinsichtlich bereits beendeter Arbeitsverhältnisse, über die kein Kündigungsschutzprozess (mehr) anhängig ist, gilt es zu unterscheiden:
Für die Arbeitsverhältnisse, die noch vor Ablauf der Umsetzungsfrist für die Richtlinie zum Verbot der Altersdiskriminierung (2. Dezember 2006) gekündigt wurden, hat die Entscheidung des EuGH keine Auswirkungen. Problematischer sind die Fälle, in denen der Arbeitgeber die Kündigung nach dem 2. Dezember 2006 ausgesprochen hat und bei denen die Berechnung der Kündigungsfrist von § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB abhing.
Die Geltendmachung einer fehlerhaft berechneten – und damit zu kurzen – Kündigungsfrist kann auch noch nach Ablauf der dreiwöchigen Klagefrist des § 4 KSchG erfolgen. Hiervon ausgehend drohen unter Umständen Zahlungsklagen ehemaliger Arbeitnehmer. Diese könnten vortragen, dass ihr Arbeitsverhältnis durch die ausgesprochene Kündigung tatsächlich erst zu einem späteren Zeitpunkt beendet worden ist und dass sich der Arbeitgeber für die Zeit der unzulässigen Verkürzung der Kündigungsfrist im Annahmeverzug befand mit der Folge, dass die Vergütung für diese Zeit gemäß § 615 Satz 1 BGB als Verzugslohn nachzuzahlen ist.
Ein solcher Zahlungsanspruch verjährt erst nach drei Jahren mit Ablauf des jeweiligen Kalenderjahres, verjährt sind aktuell mithin lediglich die bis zum 31. Dezember 2006 entstandenen Ansprüche. Helfen können dem Arbeitgeber allerdings Ausschlussfristen, die in Arbeits- oder Tarifverträgen sowie Betriebsvereinbarungen enthalten sein können.
Wurde über eine Kündigung allerdings vor dem Arbeitsgericht gestritten und ist dazu auch ein Urteil ergangen, das die Wirksamkeit der ausgesprochenen Kündigung und – vorliegend wichtiger – den gewählten Beendigungstermin bestätigt hat, kann dem Zahlungsanspruch unter Umständen die Rechtskraft des Urteils entgegen gehalten werden. Wurde ein Prozessvergleich oder eine außergerichtliche Abwicklungsvereinbarung geschlossen, so ist der hierin fixierte Beendigungstermin ebenfalls maßgeblich.
Greifen die vorstehenden Einwände nicht, kann der Arbeitgeber dem Anspruch auf Verzugslohn immer noch § 615 Satz 2 BGB entgegen halten. Hiernach muss sich der Arbeitnehmer auf den geltend gemachten Verzugslohn dasjenige anrechnen lassen, was er durch eine anderweitige Verwendung seiner Arbeitskraft im fraglichen Zeitraum tatsächlich erworben oder zu erwerben böswillig unterlassen hat. Hat der Arbeitnehmer für den betreffenden Zeitraum Arbeitslosengeld bezogen, ist insbesondere der Anspruchsübergang auf die Agentur für Arbeit (§ 115 SGB X) zu berücksichtigen. Dies hängt vom Einzelfall ab.
III. Auswirkungen auf andere Normen
Die Entscheidung des EuGH hat nicht nur Auswirkungen auf § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB. Inhaltsgleiche Regelungen sich auch in zahlreichen Tarifverträgen (z. B. in der Metall- und Elektroindustrie, in der Bauwirtschaft und im Groß- und Außenhandel) zu finden. Diese Regelungen sind im Zweifel ebenso unwirksam wie Betriebsvereinbarungen, Sozialpläne oder individualrechtliche Vereinbarungen, die im Zusammenhang mit der Berechnung von Kündigungsfristen oder sonstigen Leistungen (z. B. Abfindungen, Jubiläumsgeld) festgelegt haben, dass Zeiten der Betriebszugehörigkeit vor Vollendung des 25. Lebensjahres keine Berücksichtigung finden. Entsprechendes gilt für den Bereich der betrieblichen Altersversorgung, wenn und soweit dort die Jahre vor Vollendung des 25. Lebensjahres keine anspruchssteigernde Bedeutung haben.
Es ist erforderlich, sämtliche Vereinbarungen mit Blick auf die Berechnung von Betriebszugehörigkeitsjahren zu überprüfen. Im Zweifel sind Regelungen unwirksam, die Zeiten vor Vollendung eines bestimmten Lebensjahres unberücksichtigt lassen.
IV. Entschädigungsansprüche wegen Diskriminierung
Denkbar wäre auch, dass Arbeitnehmer, denen unter Anwendung des § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB mit einer zu kurzen Kündigungsfrist gekündigt wurde, eine Entschädigung wegen Altersdiskriminierung verlangen. Hierfür spricht zunächst § 15 Abs. 2 Satz 1 AGG, der trotz § 2 Abs. 4 AGG auch bei Kündigungen Anwendung findet. Dieser Entschädigungsanspruch besteht verschuldensunabhängig, die Frage des Verschuldens ist lediglich für die Höhe der Entschädigung relevant.
Wahrscheinlich sind solche Ansprüche allerdings nicht:
Das Gesetz schreibt in § 15 Abs. 4 AGG vor, dass ein etwaiger Anspruch auf Entschädigung innerhalb von zwei Monaten nach Kenntnis der Diskriminierung schriftlich gegenüber dem Arbeitgeber geltend zu machen ist. Kommt der Arbeitgeber dem nicht nach, muss gemäß § 61b ArbGG innerhalb von drei Monaten geklagt werden. Wenngleich derzeit noch umstritten ist, ob die kurzen Ausschlussfristen in § 15 Abs. 4 AGG und § 61b ArbGG ihrerseits einer Überprüfung durch den EuGH standhalten, so dürften sich in der Praxis dennoch die meisten Begehren hierdurch erledigt haben.
V. Fazit
Im Ergebnis empfiehlt sich, eine Bestandsaufnahme über diejenigen Arbeitnehmer zu erstellen, denen seit Dezember 2006 gekündigt und bei denen die Kündigungsfrist wegen § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB bzw. einer vergleichbaren individual- oder kollektivrechtliche Regelung verkürzt wurde. Nur auf diese Weise lässt sich klären, von welchen Arbeitnehmern eventuell noch Zahlungsansprüche drohen. Gegebenenfalls gelten für die Arbeitsverhältnisse Ausschlussfristen, die, wenn sie wirksam formuliert sind, solche Ansprüche ausschließen können. Auf den Prüfstand gehören zudem sämtliche Regelungen in Vereinbarungen zur Berechnung von Betriebszugehörigkeiten. Wie immer gilt:
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