Das Coronavirus (SARS-CoV-2) hat das private und öffentliche Leben weltweit fest im Griff und stellt damit auch das Wirtschaftsleben vor besondere Herausforderungen. Eines ist dabei klar: Die öffentliche Verwaltung muss weiter handlungsfähig und die Daseinsvorsorge gesichert bleiben. Klar ist aber auch, dass Auftragnehmer zahlreicher öffentlicher Aufträge vor der Frage stehen, ob sie ihre Leistungspflichten noch ohne Weiteres werden erfüllen können, sollte sich die Pandemie weiter ausbreiten und zu dauerhaften Einschränkungen in der Produktion bzw. dem Unternehmensbetrieb führen. Vor diesem Hintergrund beleuchtet der vorliegende Beitrag die aktuell dringendsten Fragen rund um die Auswirkungen des Coronavirus auf die öffentliche Beschaffung und Auftragsverhältnisse mit der öffentlichen Hand.
1. Effiziente Beschaffungen im Zusammenhang mit der aktuellen Pandemie
Auf Bundes-, Landes- und Kommunalebene müssen derzeit akute zusätzliche Bedarfe, insbesondere im Gesundheitsbereich (z. B. für Einmalhandschuhe, Desinfektionsmittel, Atemschutzmasken, medizinisches Gerät usw.), gedeckt werden. Auch diese Bedarfsdeckung muss unter Beachtung vergaberechtlicher Vorgaben erfolgen. Allerdings ist alles dafür zu tun, dass diese Verfahren schnell und effizient durchgeführt werden. Hierzu gibt es insbesondere die Möglichkeit, auf Vereinfachungen bei der Verfahrenswahl zurückzugreifen.
Soweit öffentliche Auftraggeber aufgrund des Coronavirus eine besonders zügige Beschaffung durchführen müssen, kann der Weg für die Durchführung eines Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb nach § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV eröffnet sein. Gleiches gilt unterhalb der EU-Schwellenwerte für eine Verhandlungsvergabe ohne Teilnahmewettbewerb (vgl. § 8 Abs. 4 Nr. 9 UVgO). Nach § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV kommt ein Verhandlungsverfahren in Betracht, wenn äußerst dringliche, zwingende Gründe es nicht zulassen, die Mindestfristen für eine andere Verfahrensart einzuhalten. Die Gründe müssen im Zusammenhang mit Ereignissen stehen, die der betreffende öffentliche Auftraggeber nicht voraussehen konnte. Zudem dürfen die Umstände, die zu der äußersten Dringlichkeit geführt haben, dem Auftraggeber nicht zuzurechnen sein. Diese Voraussetzungen dürften in der aktuellen Situation oftmals erfüllt sein. Darauf weist auch das Bundeswirtschaftsministerium in einem aktuellen Rundschreiben zur Anwendung des Vergaberechts im Zusammenhang mit der Beschaffung von Leistungen zur Eindämmung der Ausbreitung des neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 vom 19.03.2020 (abrufbar unter folgendem Link) hin.
Innerhalb eines Verhandlungsverfahrens bzw. einer Verhandlungsvergabe ohne Teilnahmewettbewerb kann die Verfahrensfrist im Rahmen der Angemessenheit auf ein Minimum verkürzt werden. Insbesondere ist selbst oberhalb der EU-Schwellenwerte keine Mindestfrist vorgesehen. Allerdings sind – sowohl oberhalb als auch unterhalb der Schwellenwerte – in der Regel mehrere Unternehmen, vorzugsweise mindestens drei, zur Angebotsabgabe aufzufordern. Ausnahmen können sich ergeben, wenn etwa aufgrund von Lieferengpässen eine Beschaffung nur bei einem Unternehmen in Betracht kommt.
Den Ländern ist es im Übrigen anheimgestellt, für Beschaffungen unterhalb der EU-Schwellenwerte übergangsweise den Anwendungsbefehl für UVgO bzw. VOL/A und Abschnitt 1 der VOB/A auszusetzen. Ob dies kurzfristig passieren wird, bleibt abzuwarten.
2. Auswirkungen auf laufende Ausschreibungen
a) Möglichkeiten zur Aufhebung einer laufenden Ausschreibung
Durch den verschobenen Fokus vieler Beschaffungsprojekte stellen sich Auftraggeber vermehrt die Frage, ob bereits laufende Beschaffungsprojekte, für die ein Bedarf nun nicht mehr, nicht mehr in dem geplanten Zeitraum oder jedenfalls nicht mehr vorrangig besteht, durch Aufhebung beendet werden dürfen.
Zu der Befugnis des Auftraggebers zur Aufhebung bereits eingeleiteter Vergabeverfahren sieht die Regelung des § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, 4 VgV (vgl. auch § 48 UVgO) Folgendes vor:
„Der öffentliche Auftraggeber ist berechtigt, ein Vergabeverfahren ganz oder teilweise aufzuheben, wenn [...]
2. sich die Grundlage des Vergabeverfahrens wesentlich geändert hat; [...]
4. wenn andere schwerwiegende Gründe bestehen.“
Eine wesentliche Änderung der Grundlagen des Vergabeverfahrens wird dann angenommen, wenn die Auftragsvergabe auf der Grundlage der bisherigen Vergabebedingungen für den Auftraggeber oder die Bieter wegen eines im Nachhinein aufgetretenen und vom Auftraggeber nicht zu vertretenen Umstandes objektiv sinnlos oder unzumutbar geworden ist bzw. die Auftragsdurchführung nicht mehr möglich ist. Eine Aufhebung eines bereits in Gang gesetzten Ausschreibungsverfahrens kann daher nach dieser Vorschrift in erster Linie in Betracht kommen, wenn für die Beschaffung unter objektiven Gesichtspunkten tatsächlich kein Bedarf mehr besteht bzw. wenn fundierte Unwägbarkeiten gegen die Beschaffung sprechen (z. B. Durchführung einer zeitnahen Großveranstaltung o.Ä.). Aber auch in anderen Fällen kann eine Aufhebung unter dem Gesichtspunkt der „sonstigen schwerwiegenden Gründe“ in Betracht kommen, etwa wenn für die Durchführung der Maßnahme aufgrund der Corona-Pandemie derzeit keine personellen Ressourcen mehr zur Verfügung stehen. Derartige Entscheidungen über den Abbruch einer laufenden Ausschreibung sollten jedoch möglichst frühzeitig getroffen und die Bieter anschließend schnellstmöglich unterrichtet werden, damit diese ihre Kapazitäten anderweitig einsetzen und einplanen können.
b) Verlängerung der vorgegebenen Fristen
Die in den jeweiligen Vergabeunterlagen festgelegten Teilnahme- oder Angebotsfristen sollten angesichts des Umstandes, dass es sich jeweils „nur“ um Mindest- und nicht um Maximalfristen handelt (vgl. §§ 15 Abs. 2 ,3 16 Abs. 2, 3 VgV), unter Umständen (großzügig) verlängert werden. Dies gilt vor allem dann, wenn Bieter ausdrücklich um entsprechende Verlängerung bitten und plausibel darlegen, dass sie andernfalls an einer Angebotsabgabe gehindert wären. Natürlich gilt dies aber nicht für dringliche Beschaffungen, bei denen eine Fristverlängerung den Auftraggeber in zeitliche Bedrängnis bringen könnte. Ebenfalls gilt dies regelmäßig dann nicht, wenn nur ein einzelner Bieter aus individuellen Gründen um eine entsprechende Verlängerung der Verfahrensfristen bittet, andere Unternehmen aber ohne Weiteres in der Lage sind, ein Angebot auf die Ausschreibung innerhalb der ursprünglichen Frist abzugeben.
Die VK Bund hat mit Blick auf eine (ggf. auch mehrfache) Verlängerung der Angebotsfrist klargestellt, dass die Fristen im Vergabeverfahren grundsätzlich so kurz wie möglich gehalten werden sollten. Gleichzeitig solle den Bietern jedoch immer auch genügend Zeit für die Erstellung der Angebote eingeräumt werden. Eine etwaige Verlängerungsentscheidung müsse sich daher im Rahmen sachgerechter Ermessensausübung bewegen und dürfe lediglich nicht von sachfremden oder willkürlichen Motiven getragen werden (vgl. VK Bund, Beschluss vom 15.10.2018, VK 1 - 89/18, dort S. 9 ff., abrufbar unter folgendem Link). Zulässig sind danach etwa Verlängerungen, die notwendig sind, um überhaupt eine ausreichende Anzahl von – wohl durchdachten – Angeboten zu erhalten.
Darüber hinaus sollte die Vergabestelle nicht vergessen zu prüfen, ob parallel eine Verlängerung der Zuschlags- bzw. Bindefrist erforderlich ist. Dies gilt insbesondere dann, wenn aufgrund der Auswirkungen des Coronavirus (erschwerte Korrespondenz aufgrund von Home-Office usw.) die Auswertung etwaiger Angebote voraussichtlich länger als ursprünglich geplant dauern wird.
c) Berücksichtigung der aktuellen Pandemie für die zukünftige Vertragsgestaltung
Viele Unternehmen scheuen sich derzeit, sich auf öffentliche Aufträge zu bewerben, deren Ausführungsfristen zeitnah nach Auslaufen des aktuellen Maßnahmenpakets zur Eindämmung der Ausbreitung des Coronavirus beginnen. Zu groß ist die Sorge, dass sich der Virus nicht so einfach eindämmen lässt und folglich für längere Zeiträume oder jedenfalls wiederholt mit Beschränkungen und Schwierigkeiten im Wirtschaftsleben zu rechnen ist.
Bieter die derartige Sorgen haben, sollten erwägen, dem Auftraggeber die Aufnahme passender vertraglicher Regelungen in laufende Ausschreibungen zu empfehlen. Hierbei kann es naturgemäß nicht um Regelungen gehen, die die bestehenden Risiken einseitig auf den Auftraggeber verlagern. Vielmehr geht es um solche Regelungen, die den berechtigten Interessen beider Parteien vor dem Hintergrund der aktuell so dynamischen und wenig kalkulierbaren Lage Rechnung tragen. Solche Regelungen sind auch aus Sicht der öffentlichen Auftraggeber zu empfehlen, um so für Rechtssicherheit zu sorgen und auch die eigenen Interessen (etwa auf rechtzeitige Unterrichtung über Leistungsschwierigkeiten, behördliche Eingriffe in den Betrieb des Auftragnehmers usw.) vertraglich abzusichern. Sowohl in schon laufenden als auch in aktuell geplanten Ausschreibungen kann die Ergänzung solcher Vertragsbestimmungen äußerst sinnvoll sein. In Betracht kommen u.a. die Vereinbarung von Sonderkündigungsrechten und/oder eine Verpflichtung zur Vertragsanpassung unter bestimmten Voraussetzungen.
3. Auswirkungen auf laufende Verträge
a) Leistungsstörungen aufgrund des Maßnahmenpakets von Bund und Ländern
Auch wenn bislang in Deutschland in etlichen Sektoren die Produktion von Waren noch weitgehend reibungslos funktioniert, gibt es schon heute zahlreiche Stillstände und viele Unternehmen spüren bereits jetzt die Auswirkungen der Corona-Pandemie deutlich. Immer mehr MitarbeiterInnen können ihre Arbeitsleistung nicht mehr oder nur noch unter Einschränkungen erbringen. Neue Grenzkontrollen innerhalb des Schengen-Raums führen zu Lieferverzögerungen, Zulieferketten etwa aus China und Indien sind unterbrochen bzw. jedenfalls gestört. Viele Unternehmen fürchten zudem wenigstens die vorübergehende Schließung einzelner Abteilungen oder ganzer Produktionsstätten aufgrund von Quarantänemaßnahmen. Was passiert außerdem, wenn etwa Geräte, Maschinen und Anlagen ausfallen und eine schnelle Reparatur bzw. Instandsetzung aufgrund der aktuellen Einschränkungen nicht möglich ist?
Mit Blick auf bestehende öffentliche Aufträge ist der Fokus zunächst auf die jeweils zugrundeliegenden Vertragswerke und die dort enthaltenen Regelungen zu richten. Zu prüfen ist, ob dort gegebenenfalls explizite Regelungen für den Umgang mit Ereignissen „höherer Gewalt“ und im besten Fall vielleicht sogar eine verbindliche Einstufung von Pandemien/Seuchen als „höhere Gewalt“ vereinbart worden sind (vgl. hierzu unseren Beitrag unter folgendem Link). Wenn und soweit derartige Regelungen im Vertragswerk fehlen oder das entsprechende Risiko in zulässiger Weise auf den Auftragnehmer verlagert ist (was ggf. gesondert zu prüfen ist), bleibt für Unternehmen mit vorübergehend oder dauerhaft eingeschränkter Liefer- bzw. Leistungsfähigkeit in der Regel nur noch das Argument der (wirtschaftlichen) Unmöglichkeit (§ 275 BGB), die Berufung auf fehlendes Verschulden aufgrund höherer Gewalt und/oder eine Störung der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB). Betroffene Unternehmen sollten in diesem Fall sorgsam erwägen, ob frühzeitige Gespräche über eine etwaige Vertragsanpassung oder (als ultima ratio) vorzeitige Vertragsbeendigung angezeigt erscheinen. Hierbei gilt es zum einen, dem Auftraggeber eine möglichst schnelle Ersatzbeschaffung zu ermöglichen, zum anderen aber auch, die Gefahr eines Ausschlussgrundes für spätere öffentliche Aufträge z. B. wegen Schlechtleistung oder Leistungsverweigerung (vgl. § 124 Abs. 1 Nr. 7 GWB) zu vermeiden. Außerdem setzt eine Berufung auf das Institut der Störung der Geschäftsgrundlage ohnehin ein Verhandlungsangebot des Betroffenen voraus.
Wurde kein individueller Vertrag geschlossen, so ist der Blick auf die in der Regel zum Bestandteil der Leistungsabrede gemachten „Allgemeinen Vergabe- und Vertragsordnungen“ (VOL/B bzw. VOB/B) zu richten. Diese regeln bspw. für die verspätete Leistungserbringung aufgrund von höherer Gewalt in § 5 VOL/B bzw. § 6 VOB/B, welche Rechte und Pflichten Auftraggeber und Auftragnehmer haben. Für Unternehmen, deren Betrieb durch Sperrungen aufgrund von Quarantänemaßnahmen betroffen sind, kann hier § 5 Nr. 2 VOL/B der Rettungsanker sein. Danach sind zunächst Ausführungsfristen angemessen zu verlängern, wenn Behinderungen im Betrieb des Auftragnehmers durch höhere Gewalt oder andere, nicht vom Auftragnehmer zu vertretende Umstände verursacht worden sind. Gleiches gilt, wenn Unterauftragnehmer oder Zulieferer in entsprechender Weise behindert sind, soweit der Auftragnehmer tatsächlich oder rechtlich daran gehindert ist, Ersatzbeschaffungen vorzunehmen. In beiden Fällen ist die Behinderung aber durch den Auftragnehmer unverzüglich gegenüber dem Auftraggeber anzuzeigen. Dauert eine vom Auftragnehmer nicht zu vertretende Behinderung länger als drei Monate nach Zugang der Anzeige bzw. Mitteilung an den Auftraggeber, so kann der Auftragnehmer binnen 30 Tagen den Vertrag kündigen oder ganz oder teilweise von ihm zurücktreten.
b) Änderungen bestehender Vertragsbeziehungen
Sowohl in Fällen einer Leistungsstörung als auch in Fällen, in denen der Auftraggeber einen Mehrbedarf aus einem bestehenden Leistungsvertrag decken will, kann außerdem eine einvernehmlich vereinbarte Änderung eines bestehenden Vertrags in Betracht kommen. Dabei gilt es allerdings, die Vorgaben aus § 132 GWB bzw. § 47 UVgO im Blick zu behalten.
§ 132 Abs. 1 Satz 1 GWB stellt klar, dass wesentliche Änderungen eines öffentlichen Auftrags während der Vertragslaufzeit grundsätzlich ein neues Vergabeverfahren erfordern. Als „wesentlich“ werden dabei Änderungen verstanden, die dazu führen, dass sich der öffentliche Auftrag erheblich von dem ursprünglich vergebenen Auftrag unterscheidet. Als Ausnahme hierzu zählt § 132 Abs. 2 GWB (abschließend) die Fälle auf, in denen eine solche Änderung des ursprünglichen Vertrags gleichwohl zulässig ist. Hierzu gehören nach § 132 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 GWB auch Konstellationen, in denen die Änderung aufgrund von Umständen erforderlich geworden ist, die der öffentliche Auftraggeber im Rahmen seiner Sorgfaltspflicht nicht vorhersehen konnte und sich durch die Änderung nicht der Gesamtcharakter des Auftrags verändert. Als „unvorhersehbar“ werden dabei solche Umstände angesehen, die auch bei einer nach vernünftigem Ermessen sorgfältigen Vorbereitung der ursprünglichen Zuschlagserteilung durch den öffentlichen Auftraggeber nicht hätten vorausgesagt werden können. Dies dürfte mit Blick auf die aktuelle Verbreitung des neuartigen Coronavirus in der Regel zu bejahen sein. Einschränkend zu berücksichtigen ist jedoch, dass die Änderung nicht dazu führen darf, dass der Preis des ursprünglichen Auftrags um mehr als 50 Prozent des Wertes erhöht wird (vgl. § 132 Abs. 2 Satz 2 GWB).
Haben Sie (vergabe)rechtliche Fragen im Zusammenhang mit dem richtigen Umgang mit den Auswirkungen durch den Coronavirus? Sprechen [oder mailen] Sie uns gerne an!